Die verschollene Karawane
heißt das wohl. Wirklich ein ungewöhnlicher Name.«
»Ich habe auch einen schönen Namen«, lockte sie.
Sein Augenaufschlag ließ sie erkennen, dass er ihre Nachricht verstanden hatte. »Und wie heißt du?«
»Hwotash, Hwotash Negash! Hwotash ist Amharisch und bedeutet ›offen‹. Ich bin offen für vieles!«
Der Priester starrte sie lüstern an. »So, du bist also offen für alles Schöne auf dieser Welt? Na, dann komm. Wir machen es uns gemütlich und plaudern ein wenig. Ich habe Getränke in der Minibar auf dem Zimmer. Wie du siehst, bin ich Priester, ein heiliger, ein keuscher Mann.«
Der Fremde war kein Priester, das wusste Hwotash Negash bereits nach einer Viertelstunde. Er trug weder Demut noch Keuschheit in sich. Im Hotelzimmer wurde er zu einem Tier mit bösartigen Augen. Er nahm sie so brutal, dass sie am liebsten geschrien hätte. Nach wenigen Minuten war er fertig und ging ins Bad, ohne sie anzuschauen. Ihr vor Ekel und Schmerz verzerrter Blick huschte durch den Raum. Da waren nur ein sehr kleiner Koffer und eine Tasche, nicht das typische Reisegepäck eines Touristen. Hier stimmte etwas nicht. Angst überkam sie. Hastig sprang sie auf.
Geld! Hol dir, was dir zusteht! Denk nur an dein Kind! Leise öffnete sie den Reißverschluss seines Koffers. Er war gefüllt mit arabischen Kleidungstücken. Obenauf lag das Foto einer Frau. Sie war sehr schön, sah wie eine Äthiopierin aus und trug eine Kette mit einem Kreuz um ihren Hals. Das andere Foto zeigte einen Europäer. Ihre Hand tastete im Koffer nach einer Geldbörse. Ihr Puls raste. Plötzlich fühlte sie einen harten, glatten Gegenstand auf ihrer Haut. Sie erstarrte. Eine Pistole!
»Nicht doch, Süße!« Die eiskalte Stimme des Mannes ließ sie herumwirbeln. Nackt und hässlich stand er vor ihr. Er lachte dämonisch.
»Ich habe nach einem Taschentuch gesucht«, log sie stotternd. Seine geröteten Fischaugen ließen sie erstarren.
»Ich bin sehr enttäuscht von dir, wirklich! Du würdest doch auch so bekommen, was dir zusteht. Aber nein, du willst mich bestehlen. Mich, einen Mann Gottes! Aber ich verzeihe dir, du prachtvolles Geschöpf Gottes! Komm, zieh dich an. Ich bringe dich bis zur Straße, damit dir draußen im Park nichts zustößt. Nachts sollten kleine Mädchen nicht allein herumlaufen.«
Sie gingen unter riesigen Tulpenbäumen am See entlang. Die gelb-orangefarbenen, sehr fleischigen und fast faustgroßen Blüten rochen betörend. Plötzlich presste sich seine linke Hand auf ihren Mund. Es war eine kräftige Hand mit vielen Schwielen. Nicht die sanfte Hand eines Gottesmannes. Angststarre bemächtigte sich ihres Körpers, und sie ergab sich ihrem Schicksal wie eine Gazelle, die von einem Löwen gerissen wird. Dann hallte das Plopp aus einer Pistole mit Schalldämpfer über den Tanasee.
Die 17-jährige Hwotash Negash aus dem Dorf Forae Jesus am Tanasee im Nordwesten Äthiopiens spürte nicht, wie ein Bleigeschoss mit Stahlmantel vom Kaliber .22 durch ihren Kopf drang. Wenig später trieb ihr lebloser Körper in den Fluten des Sees in Richtung der Klosterinsel Cherkos davon.
»Pietro, tut mir leid, ich hab das nicht so gemeint!« Commissario Toscanelli hatte so unflätig geflucht, dass er sich bei seinem Assistenten entschuldigen musste. Er war extrem angespannt. Seit einigen Tagen lag dichter Herbstnebel über Venedig. Die Stadt schien von einem mächtigen Wattebausch eingepackt zu sein. Selbst die ansonsten alles übertönenden Glocken von San Marco hörten sich an, als kämen sie aus einer gedämpften Welt. Der Nebel machte ihm zu schaffen. Nebulös gestalteten sich auch die Ermittlungen. Er versuchte, seine Gereiztheit nicht weiter an seinem Mitarbeiter auszulassen.
»Über diesem Fall liegt ein Fluch! Ganz im Ernst, Pietro. Manchmal habe ich das Gefühl, als sei eine imaginäre Macht am Werke. Da bitten wir schon mal Interpol um Amtshilfe, und prompt wird uns mitgeteilt, dass die Akte aus so genannten übergeordneten staatlichen Interessen derzeit nicht verfügbar sei. Aber wohin sie geschickt wurde, sagt man uns auch nicht. Was drin steht, schon gar nicht. Die ägyptischen Kollegen wiederum schweigen wie die Mumien in den Pharaonengräbern. Was immer wir auch anfragen, in Kairo weiß man angeblich nichts darüber. Charles Bahri? Noch nie gehört. Er war weder amtlich gemeldet noch als Besitzer eines Hauses an der Küste registriert. Und Eigentümer eines Buchladens in Kairo war er angeblich auch nicht. Ich sage Ihnen, Pietro,
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