Die verschollene Symphonie
Wagner.«
»Damit hätte sich der Kreis geschlossen«, sagte Galen. »Denn Wagner stand im Mittelpunkt der Forschungen, die ich mit Langbein und Juda betrieben habe.«
»Wir sind beide Opfer der gleichen Leidenschaft geworden – eine Leidenschaft, die in dem Buch, das wir die Ur-Edda nannten, Gestalt angenommen hatte. Langbein verlockte die einmalige Gelegenheit, den wahrscheinlich bedeutendsten historischen Fund in der Geschichte der Geisteswissenschaften übersetzen zu können. Mich faszinierte die Möglichkeit, Wagners mutmaßliche Intentionen Wirklichkeit werden zu lassen und auf der Grundlage des ältesten existierenden Quellenmaterials eine historisch vollständige Fassung des Ring- Zyklus zu schreiben und aufführen zu können.«
»Sie wussten, dass Wagner damit begonnen hatte?«
»Ja. Der Text trug Anmerkungen in seiner Handschrift und war zuvor von seinem Freund und Mentor Franz Liszt bearbeitet worden. Langbein erhielt den Auftrag, die Edda zu übersetzen, während Juda mir eine Aufgabe übertrug, die beinahe ebenso wichtig war: Ich sollte herausfinden, wieso das Manuskript durch die Hände von Liszt und Wagner gegangen und danach spurlos verschwunden ist.«
Marisa nickte. »Er sollte den Inhalt überprüfen und Sie das Material selbst.«
»Ja. Wie Sie vielleicht wissen, bin ich ein erfahrener Musikwissenschaftler. Ich machte mich also auf die Suche nach möglichen Anhaltspunkten, die beweisen würden, dass das Buch tatsächlich war, wofür Juda es hielt. Es hatte sich offensichtlich in Wagners und Liszts Besitz befunden und war danach an jenen Ort gelangt, an dem Juda es gefunden haben wollte: die so genannte ›Bibliothek des Himmels‹ in einem Berg namens Meru in Tibet. Ich kam zu dem Schluss, dass Langbein besser geeignet war, sich mit der Überprüfung dieses Aspektes zu befassen, und konzentrierte mich deshalb auf Wagner und die Spuren, die das Buch möglicherweise in seinem Leben hinterlassen hatte.
Meine Suche begann bei seinen Theorien und Beweggründen. Ich wusste eine Menge über Wagner, glaubte jedoch, dass ich in dieser Angelegenheit detektivischen Spürsinn entwickeln musste, wenn ich herausfinden wollte, warum sich Wagner für ein solches Projekt interessiert haben könnte. Und den besten Ausgangspunkt bildete das größte seiner Werke, das eine direkte Verbindung zur Edda hat: Wagners Nibelungenlied, jenen Opernzyklus, den er den Ring des Nibelungen genannt hatte.
Als Erstes beschäftigte ich mich mit der Frage, was Wagner mit dieser Komposition beweisen oder erreichen wollte. Ich hatte einmal geglaubt, es ginge ihm nur darum zu zeigen, dass seine Vorstellungen von dramatischer Musik zutrafen. Oberflächlich betrachtet eine einfache Schlussfolgerung. Wenn man jedoch in Betracht zieht, dass Wagner zwanzig Jahre gebraucht hat, um seine Tetralogie zu komponieren und dass sein Publikum hauptsächlich aus Musikern und Kunstkritikern bestand, die sehr unterschiedliche Meinungen über seine Musik vertraten, verstehen Sie vielleicht meine Gefühle, als mir klar wurde, dass ich mich von dieser Vorstellung ebenso trennen musste wie von vielen anderen, die ich mir über diesen Mann gebildet hatte. Außerdem wurde mir das ungeheuerliche Ausmaß meiner Aufgabe bewusst: Ich stand im Begriff, Wagners Seele zu sezieren. Ich hoffte, dass ich dieses Unternehmens würdig war.
Sie müssen verstehen, dass die Grundsätze, nach denen alle Kunst – und besonders die schönen Künste – beurteilt wird, Wagners Zielen nicht gerecht werden. Er folgte nicht einfach nur den ausgetretenen Pfaden, sondern schuf eine vollkommen neue musikalische Tradition, und schon damit wusste damals niemand etwas anzufangen. Dass er sich noch weiter vorwagen sollte, konnte ich mir nur schwer vorstellen.
Die schönen Künste werden von einem Regelsystem definiert. Obwohl kein Künstler ohne diese Regeln auskommt, genügen sie allein nicht, um jemanden zum Künstler zu machen. Der einfache Kunsthandwerker mag sich damit zufrieden geben, die Forderung nach einer ausgefeilten Technik zu erfüllen – aber nicht so die Schöpfer der schönen Künste. Für sie ist die Technik nur ein Werkzeug, das dazu dienen kann, ein ideales Konzept umzusetzen. Die geistige Idee diktiert dem Künstler die Verwendung der Formen, mit deren Hilfe eine angemessene Darstellung ihres Inhalts erreicht werden kann.
Es genügt jedoch nicht, dass eine Idee oder Empfindung zur Quelle des künstlerischen Werks wird, sondern ihrem Ausdruck, der
Weitere Kostenlose Bücher