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Die verschollene Symphonie

Die verschollene Symphonie

Titel: Die verschollene Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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materiellen Form, die sie annimmt, muss eine natürliche Schönheit innewohnen, die durch das Zusammenwirken von Geist und Seele des Künstlers entsteht. Das gewöhnliche Konzert eines Folkmusikers oder einer Popsängerin wird die Bedürfnisse des Publikums nie vollends befriedigen, und dieses wendet sich schließlich anderer Unterhaltung zu, um den Abend abzurunden. Doch nach einer Oper von Mozart oder Beethoven, einer Aufführung von Händel oder Haydn – an denen sich der Ring ein Beispiel nimmt – wird selbst die gewöhnlichste Seele die Einsamkeit suchen, um über die gewonnenen Eindrücke nachzudenken. Bei Ersteren wurden nur die Sinne angesprochen, bei Letzteren die Seele selbst, die auf diese Weise der Möglichkeit geöffnet wird, höhere Wahrheit und Schönheit in sich aufzunehmen.«
    »Aber ist das nicht subjektiv?«, fragte Marisa. »Würde das nicht eher vom Geschmack des Zuhörers abhängen als von der Qualität des Materials?«
    »Vielleicht. Darüber richtet die Zeit«, sagte Galen. »Qualität setzt sich durch. Wahrheit setzt sich durch. Schönheit setzt sich durch. Und eine wahre künstlerische Leistung wird jede kurzlebige Mode überdauern. Das Modell eines Malers mag seine Attraktivität verlieren, doch Helena bleibt immer Helena. Tausend Schiffe werden stets zu ihrer Rettung in See stechen, ganz gleich, wie sich ihr Aussehen, oder die Auffassung davon, verändert.«
    »Und Sie glauben, dass sich das auf alle Künste anwenden lässt?«
    »Ja. Der Kunst kommt bei der Erhöhung der menschlichen Natur eine wichtige Aufgabe zu. Denken Sie nur an das bemerkenswerte Gefühl, wenn Sie vor einem gewaltigen architektonischen Bauwerk stehen, das uns eine Erhabenheit vermittelt, die größer ist als wir selbst. Betrachten Sie eine der großartigen fließenden Skulpturen Michelangelos und Sie fühlen sich erhöht und verwandelt. Sehen Sie sich ein Meisterwerk der Malerei an und Sie fühlen den Atem der Schöpfung selbst in den Pinselstrichen. Lauschen Sie der Dichtung eines Milton, Shakespeare oder Goethe…«
    Bei diesen Worten zuckte Doktor Syntax sichtlich zusammen, doch die beiden anderen bemerkten dies nicht. Er hielt den Atem an und hörte weiter aufmerksam zu.
    »… und für einen Augenblick meinen Sie, der Schriftsteller selbst zu sein und die wundersame Quelle seines Werkes zu ergründen. Und mehr noch als die anderen Künste hat die Musik die Macht, uns aus der niederen materiellen Welt in eine göttliche zu führen, uns in das Reich des Himmels selbst zu heben. Doch Wagner war auch das nicht genug.«
    Doktor Syntax räusperte sich. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir unsere Aufmerksamkeit wieder einmal der niederen materiellen Welt zuwenden und es uns etwas bequemer machen.«
     

     
    Da die Generatoren ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten, verfügten sie über Licht und Wärme, was ihnen das Warten in der Ungewissheit erträglicher machte. Von den Magiern war nichts mehr zu hören, abgesehen von einem gelegentlichen Funkenknistern, das von der anderen Seite der Aluminiumtür am Ende des Korridors herüberdrang. Marisa verteilte einige der Lebensmittel aus den Lagerräumen des Turms und sah nach Maddox und Herrn Schwan, die beide offenbar schliefen. Sie kehrte in den weißen Raum zurück, fütterte das blaue Huhn mit Zwiebackkrümeln und ließ sich schließlich auf einem Stuhl nieder, während Galen seine Geschichte fortsetzte.
     

     
    »Wagner hatte es sich zur Aufgabe gemacht«, begann Galen, »in dem, was er das ›Drama der Zukunft‹ nannte, sämtliche Bereiche der schönen Künste miteinander zu vereinen: Architektur, Bildhauerei, Malerei, Dichtkunst und Musik, die noch in den Darstellungen des Altertums eine Einheit gebildet hatten.«
    »Wollte er die Werke des Altertums wieder aufleben lassen?«, fragte Marisa. »War es das, was er in der Edda zu entdecken hoffte?«
    Galen schüttelte den Kopf. »Zu diesem Entschluss war er gekommen, noch bevor er auf die Edda stieß. Seiner Ansicht nach konnten die künstlerischen Disziplinen nur zur Vollendung gebracht werden, wenn sie alle im Drama zusammenwirkten.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Wagner hielt die Vorstellung von der Musik als absolute Kunst für falsch. Sie benötigte die Dichtkunst zu ihrer Erklärung. Darüber hinaus glaubte er, dass die Musik ihre volle Wirkung nur in Verbindung mit Bildern, Architektur und der Leistung der Sänger entfalten konnte. Für ihn war die Musik nur eine Untermalung der Dichtkunst. Er glaubte, dass es

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