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Die verschollene Symphonie

Die verschollene Symphonie

Titel: Die verschollene Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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der Oper, wie sie zu seiner Zeit üblich war, an dramatischer Qualität mangelte. Sie vermittelte keine Ideen, weil der Komponist während des Komponierens keine damit verbunden hatte. Dramatische Handlung und Glaubwürdigkeit waren eher nebensächlich, der Sänger war die alles beherrschende Kraft. Wagner dagegen, mit seinen starken revolutionären Tendenzen, ließ den Sänger eher in den Hintergrund treten.«
    »Müssten Sie an einer solchen Entwicklung nicht Anstoß nehmen?«, fragte Marisa. »In Anbetracht dessen, was Sie sind, meine ich.«
    »Vielen Dank für das Kompliment, aber nein«, erwiderte Galen mit einem charmanten Lächeln. »Früher vielleicht einmal, doch als ich erst einmal Wagners Beweggründe verstanden hatte, fiel es mir nicht schwer, mich ihnen anzuschließen. Er stieß den Sänger als Mittelpunkt der Oper vom Thron und brach dabei mit allen Formen, die sich mit dieser Rolle verbanden. Anstelle von Sängern stellte er Schauspieler an. Vor dem endlosen Fließen der Melodien, die sich den Worten und der Handlung des Stückes anpassten, deklamierten diese singend ihre Texte und verhalfen dadurch der Dichtkunst zu ihrem höchsten Ausdruck. Für jede wichtige Situation und Figur erfand Wagner ein musikalisches Leitmotiv, das diese begleitete, wann immer sie auftauchten. Und dies alles wurde durch die übrigen Künste und ihre Ausdrucksformen ergänzt. Wagners musikalisches Drama der Zukunft war deshalb nicht einfach nur ein musikalisches Werk – im Gegenteil, jede. Disziplin der Künste trug unter der Führung von Wagners Hand einen gleichermaßen bedeutsamen Teil zum Gesamtprodukt bei.
    Was die Form der Dichtkunst angeht«, fuhr Galen fort, »so wählte Wagner die Alliteration. Jamben und Trocheen hielt er für ebenso unpassend für sein Nibelungenlied wie alle anderen alten und modernen Versmaße, abgesehen von der Alliteration, wie sie in der Älteren Edda und der Wölsungensaga verwendet wird, von denen der Ring des Nibelungen inspiriert ist. Nachdem er sozusagen den Rahmen festgelegt hatte, begann er an der inneren Substanz zu arbeiten, und die Geschichte nahm Gestalt an.«
    »Das war die Idee, die ihm vorschwebte«, sagte Marisa nachdenklich.
    »Davon bin ich überzeugt«, sagte Galen. »Er ging mit diesem Material sehr frei um, denn er wollte alle schönen Künste für die Ausgestaltung seines Projekts einsetzen. Alle vier Dramen, aus denen die Tetralogie besteht, werden jedoch von einer Idee beherrscht, die unverändert überliefert worden ist.«
    »Der Fluch des Goldes«, sagte Marisa.
    »Der Fluch des Goldes«, sagte Galen und nickte zustimmend. »Es zerstört alle, die danach streben – Götter, Riesen, Zwerge und Menschen. Das einleitende erste Drama enthält den Ausgangspunkt des Werks, bringt jedoch nur Götter, Riesen und Zwerge auf die Bühne – jene drei Geschlechter, die einander feindselig gesinnte Mächte darstellen. Die Götter, die in Walhalla wohnen; die Riesen, die in unzugänglichen Bergen und schneebedeckten Einöden leben; und die Zwerge, die geschäftig in den Eingeweiden der Erde wühlen – sie alle streben nach der Vorherrschaft, die ihrer Meinung nach das in den Fluten des Rheins verborgene Gold verheißt. Als Erstes gelangt das Rheingold in den Besitz der Zwerge. Die Götter rauben es ihnen, müssen es dann aber als Lösegeld den Riesen überlassen. Diese verlieren es schließlich an die Menschen. Der Fluch des Goldes bringt jedoch Zerstörung über jeden seiner Besitzer, und das Drama endete damit, dass das Gold wieder an der Stelle im Rhein versenkt wird, von der es ursprünglich stammte. Deshalb steht der Ring als Symbol für die gesamte Tetralogie – das Ende führt an den Anfang zurück.«
    »Eine sehr scharfsinnige Analyse«, sagte Doktor Syntax.
    »Das ist doch offensichtlich«, erwiderte Galen.
    »Er versuchte also, die Form der Oper in der Geschichte selbst wieder aufzunehmen«, sagte Marisa.
    »In der Tat. Es bestand eine grundsätzliche Trennung«, erläuterte Galen, »zwischen dem Theoretiker Wagner, der neue Regeln für die Komposition dramatischer Musik aufstellte, und dem Komponisten Wagner, der versuchte, diese Regeln im Ring des Nibelungen umzusetzen. Viele Jahre lang glaubte man, dass all diese Neuerungen Wagners genialem Geist entsprungen seien. Ich habe herausgefunden, dass das nicht stimmt – zumindest, was die ursprüngliche Quelle angeht.«
    »Eine Quelle, die Sie gefunden zu haben glaubten«, sagte Marisa.
    »Richtig. Seine Neuerungen

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