Die verschollene Symphonie
ich, dass kein geheimer Name mich retten würde, wenn er es auf mich abgesehen hatte. Ich schwor, ihn zu töten, obwohl ich wusste, dass dies wahrscheinlich auch meinen Tod bedeuten würde. Dann eilte ich nach Silvertown, um mich mit Stiefelchen zu beraten. Doch ich kam zu spät – ich fand nur noch ein Grab. Als ich mich in der Stadt nach ihm erkundigte, stellte ich fest, dass ein Teil von ihm immer noch am Leben war: Seine Geschichten sind fest in das Sagengutder Gemeinde am Fluss eingewoben. Beharrlich versuchte ich, mehr über diese Geschichten in Erfahrung zu bringen, doch umsonst. Die Geschichte, die mir helfen konnte, hat er wohl mit ins Grab genommen. Und durch meine Arroganz habe ich vielleicht eines der schlimmsten Übel auf die Welt losgelassen.«
»Dieses Übel könnte aber auch in einem Buch gesteckt haben, das Franz Schubert gehört hat«, sagte Galen. »Und wenn die Ur-Edda überlebt hat, kann es ebenfalls noch am Leben sein.«
»Juda wusste eine Menge darüber, wie oder warum das Buch in Schuberts Besitz gelangt war«, sagte Galen. »Doch woher er dieses Wissen hatte, kann ich nicht sagen. Von allen großen Komponisten ist Schubert derjenige, über den das wenigste bekannt ist. In der Geschichtsschreibung genoss er einen sehr schlechten Ruf, den oft einfältige Enthusiasten mitverschuldet hatten. Viele Jahre lang stellte man ihn als einen gedankenlosen, wirrköpfigen Komponisten dar, der komponierte, ohne zu wissen, was er tat, kein Gefühl für gute oder schlechte Dichtung besaß, mit Armut geschlagen war, unbeliebt, ungewürdigt und so weiter. So ganz falsch waren diese Darstellungen allerdings nicht. Er lebte in einer düsteren, staubigen, schlecht möblierten Wohnung im ärmeren Teil von Wien und war ein kleiner, dicklicher Mann mit runden Schultern, was wenig zur Verbesserung seiner gesellschaftlichen Stellung beitrug.«
»Man beurteilt Genies oft vorschnell nach ihrem Äußeren«, sagte Maddox. »Ihr wahres Können offenbart sich jedoch in ihrem göttlichen, unsterblichen Werk.«
»Wie bei Wagner?«
»Ganz recht. Die bemerkenswerte Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der Schubert selbst unter den ungünstigsten Bedingungen komponieren konnte, veranlasste einige seiner Freunde zu dem Glauben, er würde in einem Zustand der Trance schreiben.«
»War er übersinnlich begabt?«, fragte Marisa. »Oder besaß er einfach eine beeindruckende Fähigkeit zur Konzentration?«
»Schwer zu sagen«, grübelte Galen. »Er schien seine Meisterwerke oft mit der geheimnisvollen, instinktiven Begabung eines Genies zu verfassen. Er konnte Ereignisse, die er selbst nie erlebt hatte, in wunderbare Musikstücke von geradezu symmetrischer Schönheit verwandeln. Und irgendwo zwischen Melodie und Begleitung gelang es ihm, elegante und anmutige Kompositionen zu schaffen, die auch ohne Liedtexte den Eindruck von stürmischem Wind, rauschenden Blättern und raschelndem Gras erzeugten – die Wiegenlieder der Natur in ›Klangkunstwerke‹ verwandelt, wie er es gern nannte.
Obwohl Schubert der Sohn eines armen Schullehrers war, beherrschte er die Grundlagen seiner Kunst schon in sehr jungen Jahren und eignete sich umfangreiche Kenntnisse über die Vokal- und Instrumentalmusik an. Seit seinem dreizehnten Lebensjahr komponierte er und bewies dabei erstaunliche Fähigkeiten. Kurz gesagt, die Musik war sein Leben. Da er jedoch weder einflussreiche Freunde besaß noch seine Kompositionen vorzutragen vermochte, um ihnen auf diese Weise Gehör zu verschaffen, konnte er sich sein mageres Einkommen nur verdienen, indem er als Gehilfe in der Schule seines Vaters arbeitete. All die Jahre hindurch komponierte er weiter, und diese Plackerei hat ihn zu dem gemacht, wofür man ihn heute hält: einen geduldigen und gewissenhaften Mann, der für sein Werk unendliche Mühen auf sich genommen hat – eine Eigenschaft, die man den größten Genies zuschreibt.
Nur ein Komponist kann das seltsame Entzücken, das aus der musikalischen Inspiration erwächst, vollkommen begreifen. Weder der Maler, der seine Gedanken in Figuren und Farben kleidet, noch der Bildhauer, der seinen Träumen plastische Gestalt verleiht, und auch nicht der Schriftsteller, für den Worte nur das Rohmaterial für elegante Formulierungen und sprachliche Bilder sind, können das gleiche Vergnügen empfinden wie ein Künstler, der mit Klängen arbeitet. Doch obwohl Schubert diese Freude durchaus empfinden konnte, litt er regelmäßig unter Depressionen, die
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