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Die verschollene Symphonie

Die verschollene Symphonie

Titel: Die verschollene Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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Besessenheit. Ohne es zu bemerken, ließ er Jahre der akademischen Disziplinierung die Oberhand über sein Genie gewinnen. Bruckners unersättliches Streben nach musikalischem Wissen fegte alle anderen Überlegungen beiseite. Er versuchte sich praktisch nie an eigenen Kompositionen, sondern vergrub sich stattdessen mit Herz und Seele in den kontrapunktischen Problemstellungen, mit denen seine Lehrer ihn überhäuften. Das konnte jedoch der Flut von Anerkennung nicht Einhalt gebieten, die ihm seine sagenhafte Fähigkeit der Improvisation über jedes beliebige Thema einbrachte.«
    »Worin bestand nun seine Begabung?«, fragte Marisa. »Mir ist immer noch nicht ganz klar, was Bruckner zu etwas Besonderem gemacht hat.«
    »Vor allem seine Konzentrationsfähigkeit«, sagte Galen. »Noch wichtiger waren jedoch zwei bemerkenswerte Methoden, die er entwickelt hat: Zum einen betrieb er seine Studien mit äußerster Genauigkeit und verfügte deshalb über ein größeres musikalisches Wissen als jeder andere Komponist vor und nach ihm. Zum anderen beschäftigte er sich intensiv mit Variationen fremder Themen und entdeckte dabei seinen eigenen Stil, während er sich zugleich all das zu Eigen machte, was vor ihm geschaffen wurde. Zeitzeugen haben behauptet, dass die Stapel musikalischer Übungen, die Bruckner verfasst hatte, vom Boden seines Zimmers bis zu den Tasten seines Klaviers reichten. Eine einzige dieser Übungen füllte einmal sechzehn Notenhefte, und sein Lehrer warnte ihn vor einer ›zu großen geistigen Anstrengung‹, versicherte ihm jedoch, dass er nie einen ernsthafteren Schüler gehabt hätte.
    Die größte Prüfung seines Lebens war die Beurteilung seiner Leistungen durch das höchste musikalische Tribunal Europas, eine Kommission, die aus fünf der angesehensten Koryphäen für Musik in Wien bestand. Seinem Antrag wurde stattgegeben, und Bruckner wurde die Ehre zuteil, die ›Kampfarena‹ selbst auswählen zu können. Wie üblich schrieb einer der Prüfer ein kurzes Thema und legte es den anderen zur Zustimmung vor. Aus reiner Boshaftigkeit verdoppelte jedoch einer der Prüfer die Länge des Themas und verwandelte damit eine einfache Gelehrten-Prüfung in eine Aufgabe, die nur von einem Meister bewältigt werden konnte. Der Zettel mit dem Thema wurde schließlich an Bruckner weitergereicht. Dieser studierte ihn eine Zeit lang ernsthaft, und die Richter, die den Grund für sein Zögern falsch deuteten, lächelten wissend.
    Plötzlich begann Bruckner jedoch zu spielen – zunächst eine einfache Einleitung, die sich aus Bruchstücken des vorgegebenen Themas zusammensetzte und allmählich auf die vorgeschriebene Fuge zusteuerte. Schließlich brach die Fuge selbst auf spektakuläre Weise hervor, und es war keine Fuge, wie man sie von einem Hochschulabsolventen hätte erwarten können, sondern die lebendige Verkörperung einer kontrapunktischen Phillipika. Mit der Respekt einflößenden Herrlichkeit eines Donnerschlags aus heiterem Himmel stürmte ihre Erhabenheit auf die Ohren der fünf Prüfer ein und überwältigte diese vollkommen. Als Bruckner schließlich gebeten wurde, auf der Orgel frei zu improvisieren, bewies er eine so hervorragende Beherrschung des Instruments, dass die Richter endgültig den Gedanken aufgaben, zur Beurteilung eines solchen Talents qualifiziert zu sein.
    Allerdings war noch jemand bei dieser Vorführung anwesend: ein Musiklehrer, der Bruckner kurze Zeit später davon überzeugte, dass nur das gründlichste Studium das wahre Ausmaß seiner Fähigkeiten zu Tage fördern könne. Und so begann der große Künstler, der sich bereits auf das mittlere Lebensalter zubewegte, sich erneut bescheiden und verzweifelter als jeder Schuljunge in die Berge veralteter musikalischer Dogmen zu vergraben, die ihm sein neuer Mentor vorlegte – Doktor Syntax.«
    Alle im Raum erstarrten, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Galen erholte sich als Erster und blickte die anderen scharf an. »Was? Was habe ich da gerade gesagt?«
    »Den Namen von Bruckners Lehrer, der ihn zu diesen Studien überredet hat«, sagte Maddox. »Wie lautete er noch einmal?«
    »Syntax. Doktor Syntax.«
    Bei diesen Worten warfen Marisa und Maddox dem Namensvetter Syntax, der sich offensichtlich nervös auf die Lippe biss, einen fragenden Blick zu. Einige Sekunden später hatte auch Galen begriffen.
    »Ihr Name ist Syntax.«
    »Schuldig gemäß der Anklage.«
    »Wir haben es also mit einem Mitglied der Familie zu tun«, sagte Galen

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