Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verschollene Symphonie

Die verschollene Symphonie

Titel: Die verschollene Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
Vom Netzwerk:
ihn oft in einen elenden Zustand versetzten.«
    »Warum?«, fragte Marisa.
    »Weil er erkannt hatte, dass die Behauptungen vieler seiner Kritiker gerechtfertigt waren. Er hatte eine große Schwäche: Es mangelte ihm an jeglichem kritischen Urteilsvermögen.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Er hatte kein Ohr – oder Auge, wenn man so will – für Literatur. Ein Sonett von Shakespeare und ein Plakat, das für eine Varietevorstellung warb, nährten gleichermaßen seine Inspiration. Kurz gesagt, er besaß keinen Geschmack, was Poesie und Prosa anbelangte.«
    »Aber wie steht es mit dem ›Erlkönig‹?«, fragte Galen. »Das war und ist eine bemerkenswerte Errungenschaft.«
    Maddox schüttelte den Kopf. »Seine scheinbar brillante und geniale Entscheidung, Goethes Gedicht zu vertonen, war reiner Zufall. Das ist die Ironie des Ganzen: Das Gedicht an sich ist ganz hübsch, aber die Unsterblichkeit, die Schubert ihm verliehen hat, beinahe nicht wert.«
    »Ich fürchte, ich kenne dieses Gedicht nicht«, warf Marisa ein. »Worum geht es dabei?«
    Maddox nahm dies als Einladung, Goethes großes Werk zu rezitieren:
     
    »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
    Es ist der Vater mit seinem Kind;
    Er hat den Knaben wohl in dem Arm
    Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.
     
    Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
    Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
    Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? -
    Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. -
     
    ›Du liebes Kind, komm geh mit mir,
    Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
    Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
    Meine Mutter hat manch gülden Gewand.‹ -
     
    Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
    Was Erlenkönig mir leise verspricht? -
    Sei ruhig, bleib ruhig, mein Kind,
    In dürren Blättern säuselt der Wind. -
     
    ›Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
    Meine Töchter sollen dich warten schön,
    Meine Töchter führen den nächtlichen Rhein,
    Und wiegen und tanzen und singen dich ein.‹ -
     
    Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort,
    Erlkönigs Töchter am düstern Ort? -
    Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau,
    Es scheinen die alten Weiden so grau. -
     
    ›Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
    Und bist du nicht willig; so brauch ich Gewalt!‹ -
    Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
    Erlkönig hat mir ein Leids getan! -
     
    Dem Vater grausets, er reitet geschwind,
    Er hält in Armen das ächzende Kind
    Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
    In seinen Armen das Kind war tot.«
     
    »Ein wenig düster, oder?«, sagte Marisa. »Warum hat es so ein trauriges Ende?«
    »Vielleicht, weil das noch nicht die ganze Geschichte ist«, sagte Galen. »Soweit ich feststellen konnte, handelt es sich dabei um ein fast wörtliches Zitat aus einem Abschnitt des Buch des Saturn. Und weil dieses Buch mit großer Wahrscheinlichkeit vor Goethes Zeit entstanden ist…«
    »Wollen Sie damit sagen, dass Goethe von diesem Buch beeinflusst war?«, fragte Maddox.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Galen. »Ich konnte lediglich feststellen, dass Schubert das Buch zum damaligen Zeitpunkt gekannt haben musste. Möglich ist es. Fest steht jedoch, dass Schubert das Gedicht nur als einen Prolog vertont hat. Ich glaube – und seine Anmerkungen bestätigen das –, dass er das gesamte Buch umsetzen wollte.«
    »Er hat also das Gleiche versucht wie Wagner, mit einem ähnlichen Buch, nur einige Jahrzehnte früher«, sagte Marisa.
    »Nicht ganz. Wagner schrieb an neuem Material und benutzte dabei die eddischen Mythen als Quelle. Außerdem verfasste er sowohl Text als auch Musik. Schubert mangelte es an dichterischen Fähigkeiten, und er wollte deshalb einfach nur die Worte des Buches vertonen. Ich bin sicher, dass er mit großer Texttreue gearbeitet und ihn in wundervolle Musik verwandelt hätte – das Gesamtwerk wäre dennoch eher unförmig geworden. Wagner dagegen hatte eine solche Quelle nie längere Zeit zur Verfügung gehabt, auch wenn er die Fähigkeit besessen hätte, sie in angemessener Weise zu vertonen.«
    »Sehen Sie nicht, dass sich da eine Entwicklung vollzogen hat?«, rief Marisa. »Wann hat Schubert mit der Arbeit am ›Erlkönig‹ begonnen?«
    »Irgendwann um 1814.«
    »Und Wagner begann beinahe fünf Jahrzehnte später mit der Überarbeitung des Rings.«
    »Richtig.«
    »Begreifen Sie denn nicht?«, fragte Marisa.
    »Ich glaube, langsam verstehe ich«, sagte Galen. »Die Musikkenner Wiens schätzten Schubert vor allem wegen der Schönheit

Weitere Kostenlose Bücher