Die verschollene Symphonie
und Vielfalt seiner Lieder – seine großartigsten und ambitioniertesten Werke waren jedoch rein instrumental.«
»Ja, und sein neues Werk wäre es auch gewesen. Es konnte sich jedoch nur auf seine Inspiration stützen und nicht auf die Fähigkeit, die wirklich wichtigen Aspekte des Materials von den banalen zu unterscheiden«, sagte Marisa.
»Wie bedauernswert«, warf Maddox ein. »Beethovens Prophezeiung auf dem Sterbebett, dass Schubert einen Funken des göttlichen Feuers besaß und eines Tages die Welt in Aufruhr versetzen würde, hätte sich in eben einem solchen Werk erfüllen können.«
»Dazu sollte es wohl nicht kommen«, sagte Doktor Syntax.
»Ach wirklich?«, sagte Maddox ernst. »Schauen Sie doch nur einmal aus dem Fenster.«
Doktor Syntax schwieg und warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Er hat sich seine Grenzen selbst gesteckt«, sagte Galen. »Obwohl er über ein besonderes Talent verfügte, war er schlecht belesen, leidenschaftslos und spießbürgerlich, hatte keine Ziele oder Ideale und gab sich einfach mit dem Leben zufrieden, so wie es war. Dennoch war er durch und durch besessen vom verzehrenden Feuer der Genialität.
Ein Merkmal dieses Feuers ist es«, fuhr Galen fort, »dass es eine reinigende Wirkung hat. Es brennt in einem Menschen alles weg, das unwürdig wäre, und veredelt über die Jahre alles, was gut ist. Und obwohl Schubert sich dessen nicht bewusst war, hat er größere Höhen erreicht, als er je für möglich gehalten hätte. Seine Neunte Symphonie, und die Achte, die so genannte ›Unvollendete‹, waren nicht das Letzte, was er geschrieben hat. Es ist weithin bekannt, dass es ein weiteres Werk gab – eine Symphonie, die im Lauf der Jahre verloren gegangen ist. So glaubte man jedenfalls. Sie ist nie aufgetaucht, nie vollendet oder zu seinen Lebzeiten aufgeführt worden, doch der Keim, aus dem sie wieder neu entstehen sollte, wurde fest in das Herz und die Seele eines anderen Mannes eingepflanzt.
Kurz vor Schuberts Tod ereignete sich ein außergewöhnlicher Vorfall. Einer seiner Anhänger brachte einen kleinen Jungen zu ihm, den er für ein musikalisches Wunderkind hielt. Schubert willigte ein, sich den Jungen anzusehen, und dieser gewann den Meister sofort für sich, indem er ihm das gesamte Leitmotiv seines ›Forellenquintetts‹ aus dem Kopf vorpfiff. Schubert war davon so bezaubert, dass er dem Kind ein altes Buch aus seinem Besitz schenkte. Dieses Buch sollte eines Tages große Bedeutung für den Mann haben, der aus dem Kind einmal werden würde – der Wagner-Verehrer Anton Bruckner.«
KAPITEL ACHT
Die Symphonie
»Bruckner. Bruckner«, murmelte Maddox. »Bruckner. Natürlich! Langsam erkenne ich ein Muster! Fahren Sie fort, Galen – erzählen Sie Ihre Geschichte zu Ende. Ich glaube, die Auflösung unseres Wagner-Rätsels ist in Sicht.«
»Wie Franz Schubert war auch Anton Bruckner ein Abkömmling mehrerer Generationen österreichischer Schulmeister«, sagte Galen. »In dem Dorf Ansfelden in der Nähe von Linz hatten Bruckners Großvater Joseph und sein Vater Anton ihr Leben dem eintönigen Alltag einer ländlichen Schule gewidmet, und Antons Geburt bedeutete wenig mehr als die Fortführung einer Familientradition. Bereits in seinem vierten Lebensjahr zeigte der kleine ›Tonerl‹, wie er genannt wurde, eine deutliche musikalische Veranlagung. Er spielte recht geschickt auf einer kleinen Fiedel, und es hieß, dass er oft unbekannte Melodien vor sich hin summte oder pfiff.«
»Noch ein Wunderkind«, sagte Marisa. »So wie Wagner und Schubert.«
»Ja, und dann auch wieder nicht – Bruckner unterschied sich in vielen Dingen grundsätzlich von den beiden. Die Vorstellung, den Beruf eines Musikers zu ergreifen, ist dem Jungen anscheinend nie in den Sinn gekommen. Alles schien vorherbestimmt: Sein Vater war Lehrer gewesen, also würde auch er Lehrer werden. Neben dem anstrengenden Musikunterricht widmete er sich deshalb dem autodidaktischen Studium verschiedener akademischer Fächer und wurde schließlich zum Studium in Linz zugelassen. Zugleich erhielt er eine Stelle als Organist in der örtlichen Kirche. Die übliche Gleichförmigkeit der Messen in der Dorfkirche wurde häufig von dem neuen Organisten unterbrochen, der eine starke Vorliebe für dramatische Harmonien hatte. Doch obwohl er gern improvisierte, hielt er sich dabei stets strikt an die so genannten Gesetze der Musik. Unendliche Gründlichkeit – der einzige Weg zur Perfektion – wurde ihm zur
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