Die verschollene Symphonie
schroff. »Das macht die ganze Sache noch interessanter. Wenn hier eine Verschwörung am Werk ist, reicht sie mehr als zweihundert Jahre zurück.«
Überraschenderweise lachte Doktor Syntax laut auf.
»Eigentlich ist sie noch sehr viel älter«, sagte der Direktor. »Aber für das weitere Geschehen spielt das wohl keine Rolle mehr, weil sie nun möglicherweise gar nicht erst zustande kommen wird.«
»Eine zweihundert Jahre alte Verschwörung, die noch nicht begonnen hat?«, fragte Maddox. »Wie soll das funktionieren?«
»Erzählen Sie weiter, Galen«, sagte Marisa. »Ich glaube, wir werden es sehr bald herausfinden.«
Galen blickte zu Maddox hinüber und dann zu Doktor Syntax, der weder zustimmte noch Einwände erhob, sondern einfach nur dasaß und sie beobachtete.
»Worauf ich hinauswollte«, fuhr Galen hastig fort, »ist, dass die gigantischen Konzepte von Bruckners eigenen Symphonien ohne diese eintönigen Jahre des intensiven Studiums vielleicht gar nicht erst entstanden wären. Und der Anlass, der dieses Wunderkind schließlich doch dazu brachte, selbst zu komponieren, war Wagner.
Die Musik der Oper Tannhäuser war für Bruckner Kampfansage und Aufruf zu schöpferischer Freiheit zugleich. Er war dem Meister noch nie persönlich begegnet, doch Wagners Werk bestimmte von nun an den Weg des Komponisten und trieb ihn zu bis dahin unerreichten Höhenflügen an. Schon mit seiner ersten Schöpfung, der wunderbaren Messe in d-Moll, schenkte dieser neugeborene Bruckner der Welt ein bedeutendes Werk, das an Tiefe und Ausdruckskraft vielleicht von keinem anderen in der Geschichte der Musik übertroffen wird. Für seine Komposition benötigte er nur drei Monate.
1865 begann Bruckner an seiner ersten Symphonie zu arbeiten und erhielt schließlich die Gelegenheit, seinen geistigen Mentor kennen zu lernen. Dieser schloss den ernsthaften, aufrichtigen Österreicher sofort ins Herz und räumte ihm sozusagen einen Platz an der Wagnerschen Tafelrunde ein. Bruckners Verehrung für Wagner war so gewaltig, dass er sich in Gegenwart des Meisters nicht einmal setzen wollte. Und nach ihrer ersten Begegnung konnte Wagner in Anton Bruckners Wertschätzung von niemandem übertroffen werden.
Am 14. April 1866 vollendete Bruckner seine erste Symphonie. Ihre erste Aufführung 1868 war allerdings nicht von Erfolg gekrönt, und der Komponist legte die Entwürfe für zwei neue Symphonien erst einmal beiseite. Entmutigt beschloss er, eine Weile mit dem Komponieren aufzuhören, und begab sich auf eine Konzerttournee durch Frankreich, die auf große Begeisterung stieß. Bald war man sich überall einig, dass Bruckner der größte Organist seiner Zeit sei. Seine nächste Symphonie wurde besser aufgenommen und führte in einem hohen Bogen zur dritten…«
»Der Wagner-Symphonie«, sagte Maddox. »Eines passt zum anderen, nicht wahr?«
»In der Tat. Irgendwann brachte Bruckner den Mut auf, Wagner um seine Empfehlung als Künstler zu bitten, die dieser ihm – sehr zu seiner Freude – aus vollem Herzen und mit Segenswünschen zusicherte. Die vierte Symphonie, an der er zur damaligen Zeit bereits arbeitete und die den Titel ›Die Romantische‹ trug, wurde am 22. November 1874 vollendet. Bruckner arbeitete zwei Jahre an der Komposition der fünften oder ›Tragischen‹ Symphonie, sollte die Aufführung seines Werks jedoch nicht mehr erleben. 1876 lud ihn Wagner zu den ersten Aufführungen seines Rings nach Bayreuth ein, und die beiden großen Musiker unterhielten sich noch einmal über die Wagner-Symphonie.«
»Ich erinnere mich an ihn«, sagte Maddox. »Bruckner bei der Aufführung des Ring des Nibelungen zu beobachten, hieß jemanden zu sehen, der wahrhaftig glaubte, vom Licht Gottes berührt worden zu sein.«
»Das hatte er auch dringend nötig«, sagte Galen. »Aufgrund eines schweren Nervenzusammenbruchs, der sicherlich auf Überanstrengung zurückzuführen war, verbrachte er den Sommer 1880 auf einer Kur in der Schweiz. Kurz darauf zog er sich ein Fußleiden zu, das ihn ans Bett fesselte. Trotz dieser deprimierenden Umstände bot er all seine geistige Kraft auf, um an seiner Sechsten Symphonie weiterzuarbeiten, als sei das ganze Missgeschick nur eine göttliche Probe seines Glaubens.
Im Juli 1882 unternahm er eine kurze Reise nach Bayreuth, um sich die erste Aufführung des Parsifals anzusehen. Jeden Morgen besuchte er Wagner, und am Ende der Woche trafen sie sich zum Abendessen. Als sie sich an diesem Abend voneinander
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