Die verschollene Symphonie
verabschiedeten, sollten dies die letzten Worte sein, die sie in dieser Welt jemals miteinander wechseln würden – bis auf eines. Es heißt, dass der jüngere Komponist mitten in der Schöpfung seiner Siebten Symphonie eine Vorahnung gehabt hatte, die zur Entstehung des wunderbaren Adagios führte, mit dem er Wagner majestätischen Tribut zollte.
Zufälligerweise erfuhr Liszt von dieser Komposition und sprach Bruckner aus Sorge um Wagner darauf an. Die beiden verbrachten die gesamte Nacht tief im Gespräch versunken. Als Wagner-Anhänger hatte Liszt insgeheim geglaubt, dass die Leute seine symphonischen Gedichte erst würden verstehen können, wenn sie die musikalischen Dramen seines Schwiegersohnes zu schätzen gelernt hatten. Doch Bruckners Werk überzeugte ihn davon, dass der Komponist etwas war, das zu finden er nie zu hoffen gewagt hatte: ein verwandter Geist.
Aus Sorge, Bruckners Vorahnung könnte sich bewahrheiten, brachen die beiden noch in derselben Nacht auf, um ihren kranken Freund zu besuchen. Vielleicht hatte Wagner selbst ein ungutes Gefühl, denn als sie ankamen, enthüllte er ihnen nicht nur sein Vorhaben, eine vollkommenere Fassung der Ring- Tetralogie zu schreiben, sondern auch seine gesamten Quellen – darunter die Ur-Edda, die wir ihm nur wenige Monate zuvor gebracht hatten. Bruckner erkannte das Buch, oder zumindest den Stil, in dem es verfasst war. Es war beinahe identisch mit einem Buch, das er schon seit langem besaß, allerdings aus Zeitmangel nie eingehender untersucht hatte. Der alternde Schubert hatte es ihm in seiner Kindheit geschenkt – Das Buch des Saturn. Und dessen vergilbte Seiten bargen einen unerwarteten Schatz: die einzige existierende Abschrift von Schuberts verschollener Symphonie.«
»Kurze Zeit später starb Wagner. Und die Früchte seiner Arbeit mitsamt der unausgesprochenen Aufforderung, sie zu vollenden, gingen in den Besitz Anton Bruckners über. Im Sommer 1884 begann Bruckner an mehreren neuen Symphonien zu arbeiten: an der Siebten – seiner berühmtesten und beliebtesten –, der Achten oder ›Unvollendeten‹ Symphonie und an der Neunten. Er begann außerdem mit zwei weiteren, von denen er die eine später verwarf, während die andere verloren gegangen ist. Im Sommer 1886 fuhr er nach Bayreuth und kam gerade noch rechtzeitig, um bei Liszts Beerdigung zugegen zu sein. Als Bruckner an der Orgel mit Melodien aus dem Parsifal einen ›Grabgesang‹ improvisierte, schien er damit das Ende des goldenen Zeitalters der Musik im neunzehnten Jahrhundert einzuläuten.
In Wien war man zu diesem Zeitpunkt von Bruckners Können vollkommen überzeugt. Eine Gruppe wohlhabender Österreicher fand sich zusammen, um die finanziellen Mittel aufzubringen, die den Komponisten von seinen anstrengenden akademischen Pflichten befreien sollten. So standen ihm die letzten fünf Jahre seines Lebens zur freien Verfügung. Im Sommer 1893 war er die wichtigste Persönlichkeit bei den Bayreuther Festspielen. Eine ganze Heerschar von Bewunderern begrüßte voller Begeisterung seine Ankunft, und in dem Durcheinander verschwand der Koffer, in dem sich die Entwürfe für seine Neunte Symphonie befanden. Nach vielen bangen Stunden konnte der Komponist ihn schließlich zu seiner großen Erleichterung von einer Polizeiwache abholen.«
»Hat man jemals herausgefunden, was mit dem Koffer geschehen war?«, fragte Marisa.
»Nein. Er ist einfach verschwunden und wurde schließlich bei der Polizei abgegeben. Während seines Aufenthalts in Bayreuth pilgerte Bruckner jeden Tag zu Wagners Grab. Nachts komponierte er, wann immer er eine Eingebung hatte, beim Licht zweier Kerzen. Nach dem Sommer hatte sich Bruckner genügend erholt, um in die ländliche Gegend seiner Jugendjahre zurückzukehren. Seinen siebzigsten Geburtstag feierte er eher ruhig, wie es der Wiener Arzt, der ihn begleitete, angeordnet hatte.«
»Kurze Zwischenfrage«, sagte Maddox, »Sie kennen nicht zufällig den Namen dieses Arztes, oder?«
»Tut mir Leid, nein«, erwiderte Galen. »Wieso?«
»Nur so«, sagte Maddox und warf Doktor Syntax einen argwöhnischen Blick zu.
»Wie sich herausstellen sollte, handelte es sich bei der scheinbar raschen Besserung von Bruckners Gesundheitszustand nur um eine kurze Gnadenfrist. Noch ein letztes Mal stand er vor seinen geliebten Studenten, und von diesem Zeitpunkt an verschlechterte sich sein Befinden ständig. Selbst sein Geisteszustand litt unter starken Schwankungen. Bruckner sah sich
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