Die verschollene Symphonie
gezwungen, die Arbeit an seiner Neunten Symphonie am Ende des dritten Satzes abzubrechen – das schönste Adagio, das er je komponiert hatte, wie er Freunden erzählte. Aus Entwürfen, die nach seinem Tod unter den Hinterlassenschaften gefunden wurden, hat man geschlossen, dass er dem Werk noch ein rein instrumentales Finale hinzufügen wollte, das vom Stil her dem Schlussteil seiner ›Tragischen Symphonie‹ ähnelte. Diese Noten sind falsch interpretiert worden: Sie waren nicht als Ergänzung gedacht, sondern stellten den Anfang einer vollkommen neuen Symphonie dar – der Zehnten.
Bruckner sollte sie jedoch nie vollenden können. Die letzte Musik, die er sich in der Öffentlichkeit anhörte, war Wagner. Bruckner lag im Sterben. Am letzten Morgen seines Lebens, einem heiteren Sonntag, hatte er sich mit den Entwürfen für das Finale seiner Neunten Symphonie beschäftigt. Sein Zustand schien keinen Anlass zur Beunruhigung zu geben. Doch um drei Uhr nachmittags klagte er darüber, dass ihm kalt sei, und bat um eine Tasse Tee. Ein Freund, der gerade bei ihm war, brachte ihn zu Bett. Kaum hatte Bruckner es sich jedoch bequem gemacht, da atmete er noch ein- oder zweimal schwer und entschlief.
Mit dem Tod Anton Bruckners war auch meine Suche beendet. Ich war auf die Lösung gestoßen, die ich nach Judas Anweisungen in den Leben drei der größten Komponisten, die jemals eine Melodie ersonnen haben, finden sollte.«
»Und was für eine Lösung war das?«, fragte Maddox.
»Eine äußerst einfache«, sagte Galen. »Jedenfalls als erst einmal alle Teile des Mosaiks an ihrem Platz lagen. Bei Bruckners Zehnter Symphonie handelte es sich um die gleiche Komposition wie Schuberts verschollene Symphonie, und beide waren identisch mit der unvollendeten Komposition, die Wagner solche Mühen bereitet hatte: das wahre Herz der Ur-Edda, welche die Geschichte der Nibelungen mit denen der Erlkönige verband. Schubert besaß die entsprechenden musikalischen Fähigkeiten, war jedoch nicht in der Lage, das Material zu bearbeiten oder zu übersetzen. Wagner konnte mit dem Material umgehen, lebte aber nicht lange genug, um seine Arbeit vollenden zu können. Nur Bruckner verfügte über Fähigkeit, Wissen, musikalisches Gespür und literarische Kenntnis, um das Werk des Meisters mit seiner eigenen Komposition zu verschmelzen.«
»Eine Frage«, sagte Marisa. »Dieser Juda hat behauptet, die Ur-Edda in Meru gefunden zu haben, während Maddox sagte, er hätte sie von Madam Blavatsky in Indien erhalten. Wenn Maddox und Liszt das Buch nach Europa gebracht haben und es sich bis zu Bruckners Tod in dessen Besitz befunden hat, wer hat es dann nach Meru gebracht?«
Maddox schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Das kann ich beantworten. In der Nacht vor Bruckners Tod sah ich eine zierliche, schöne Frau in sein Haus gehen. Sie blieb nur wenige Minuten, und als sie das Haus im Eilschritt wieder verließ, trug sie ein großes Paket bei sich. Ich bin überzeugt, dass sich darin sowohl die Ur-Edda als auch das Buch des Saturn befanden.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Galen. »Haben Sie einen Blick darauf werfen können?«
»Leider nein«, sagte Maddox, »aber es kann nicht anders gewesen sein. Ich habe die Frau nur noch ein weiteres Mal gesehen, bei Bruckners Beerdigung. Und erst da, bei Tageslicht, habe ich sie erkannt. Sie war eine viel versprechende, wenn auch noch nicht sonderlich bekannte junge Opernsängerin. Die Tiefe ihres Charakters und ihr Wissensdurst müssen Bruckner davon überzeugt haben, ihr die Bücher anzuvertrauen. Kurze Zeit später gab sie ihre Karriere auf und verbrachte den größten Teil ihres restlichen Lebens – soviel davon bekannt geworden ist – im Fernen Osten, insbesondere in Tibet.«
»Alexandra David-Neel«, sagte Galen.
»Woher wussten Sie das?«, rief Maddox aus.
»Juda… er ist ihr in Tibet begegnet.«
»Sie meinen doch wohl nicht…«, setzte Maddox an.
»Doch«, sagte Galen. »Die Frau, die die Manuskripte nach Meru zurückgebracht hat, war Judas Ankoritin A – Alexandra David-Neel.«
»Ich möchte nicht allzu skeptisch klingen«, sagte Marisa, »aber welchen Beweis haben wir dafür, dass das alles mehr ist als bloße Vermutung?«
»Sie haben sie gefunden, nicht wahr?«, sagte Maddox grinsend zu Galen. »Sie haben das verdammte Ding gefunden.«
»Ja. Juda und ich, wir haben die unvollendete Symphonie aufgespürt«, sagte Galen. »Sie befand sich im Besitz dessen, der als
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