Die Verschwörer von Kalare
Verteidiger auf den Mauern sahen, legten sie den Kopf in den Nacken und stießen ein langgezogenes klagendes Geheul aus, und Tavi stellten sich die Nackenhaare auf.
Von den Fischen unten im Hof erscholl lautes Geplapper, und Tavi hörte Schultus, der ihnen befahl, still zu sein.
»Also gut, Marcus«, sagte Tavi. Es überraschte ihn selbst, wie ruhig seine Stimme klang. »Richte das Feldzeichen hier auf.«
Marcus war dagegen gewesen, dem Feind die Position des Hauptmanns zu verraten, aber Tavi hatte sich über ihn hinweggesetzt, und einer der Männer hielt jetzt das Banner der Ersten Aleranischen, den rot-blauen Adler, am Ende einer langen Lanze in den Wind. Und Tavi trat auf die Zinnen, wo alle Legionares ihn sehen konnten. Er zog das Schwert, hob es über den Kopf, und tausend andere Schwerter folgten seinem. Wie als Antwort auf das unheimliche Heulen und die wilden Trommeln ertönte ein Klirren, ein Chor aus Stahl.
Tavi warf den Kopf in den Nacken und stieß einen herausfordernden Schrei aus, und mit diesem Schrei brüllte er seine Ungeduld und seine Angst und seine Wut heraus, und sofort fielen tausend Legionares mit ein. Der Sturm aus den Kehlen ließ die Mauer beben.
Das Heer der Canim stieg über die Kuppe und wurde vom Anblick der tausend Legionares in Stahl begrüßt, die glänzende Schwerter in den Händen hielten und dem Feind ihren Trotz ins Gesicht schrien. Furchtlos, wild und streitlustig stand die Erste Aleranische hinter ihrem Hauptmann und war bereit - mehr als bereit -, dem Heer der Canim zu trotzen. Trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit machten ihre Stellung, ihre Elementarkräfte und der schiere Wille sie zu einem gefährlichen Feind.
Das jedenfalls wollte Tavi die Canim glauben machen. Onkel Bernard hatte ihm viel darüber beigebracht, wie man einem Raubtier entgegentritt, das eine Herde bedroht. Der erste Eindruck war oft entscheidend.
Tavi sprang von der steinernen Zinne zurück, als der Jubel abebbte, und der Erste Speer begann mit lauter Stimme, ein altes Marschlied der Legion zu schmettern. Es handelte zwar eher von koketten Jungfrauen und Krügen voller Bier als von Schlachten und Kriegen, aber jeder Legionare kannte es, und offensichtlich hatte es eine unerschöpfliche Anzahl von Strophen. Der Erste
Speer sang jeweils die erste Zeile, und die Legionares antworteten mit dem rhythmischen Kehrreim.
Das gehörte zu Tavis Plan, die Männer mit Gesang zu beschäftigen, während das feindliche Heer über den Hügel marschierte - Canim in schwarzlackierten Rüstungen mit seltsamen Verzierungen, hier und da auch mit verschiedenen Farben gesprenkelt, möglicherweise Abzeichen für persönliche Heldentaten. Viele Tausende kräftiger, schlanker, riesiger Canim - und wenn es stimmte, was Varg ihm über ihre Lebenserwartung erzählt hatte, durfte jeder von ihnen über weitaus mehr Erfahrung verfügen als selbst die ältesten Veteranen unter den Legionares .
Die Männer sangen weiter, während Tavi die feindlichen Krieger zählte oder zumindest grob einschätzte - zwanzigtausend mussten es mindestens sein, dazu doppelt so viele Plünderer, die in kleinen Rudeln von ungefähr fünfzig Mann Stärke vor der Hauptarmee umherstreiften, die Flanken bildeten oder im Tross folgten wie abgemagerte wilde Hunde einer Herde Graslöwen.
Die Canim waren der Ersten Aleranischen zehn zu eins überlegen, und gegen Krieger, die dicht an dicht standen, würde die Reiterei auch nicht diese durchschlagenden Erfolge erzielen wie bei den kleinen Rudeln von Plünderern. Männer, die jetzt noch sangen, würden bald sterben. Tavi selbst würde vielleicht ebenfalls sterben. Die Angst, die sich bei diesem Gedanken einstellte, machte Ehrens Bemerkung, er sei ein Kursor und seine Pflicht bestehe darin, dem Ersten Fürsten Bericht zu erstatten, nur noch verführerischer. Er könnte sich einfach auf ein Pferd setzen und vor den Canim und der Legion davonreiten, falls er unbedingt wollte.
Aber Tavi hatte Hauptmann Cyril einen Eid geleistet, der Legion ebenso zu dienen wie der Krone. Er konnte dieses Versprechen nicht brechen. Auch konnte er seine Freunde nicht im Stich lassen, denn Max würde andere Legionares , die sich in Gefahr befanden, niemals allein zurücklassen, nicht einmal, wenn Gaius persönlich ihm den Befehl erteilen würde.
Tavi wünschte sich verzweifelt, er wäre fort von hier. Doch das würde sich sicherlich jeder mit ein bisschen Gehirn wünschen. Jeder Mann hier auf der Mauer und jeder, der dahinter
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