Die Verschwoerung von Toledo
einer vollkommenen, unverrückbaren Ordnung. Eine solche Ordnung ist aber nur mit Buchstaben und Zahlen zu verstehen, denn diese sind frei von Gefühlen, von Ideologien und von Absichten. So sehen wir auch die fünf Bücher Mose, die man auf Griechisch das Pentateuch nennt. Um diese Schriften zu verstehen, lesen wir unser Buch des Glanzes, den Sefer ha-Sohar. Hast du es inzwischen ausgeliehen?«
»Ja. Ferrand hatte es, er gab es mir.«
»Es wurde vor nicht einmal fünfzig Jahren hier in Toledo geschrieben, sein Verfasser ist der spanische Jude Mose ben Schemtow. Mein Vater hat ihn noch gekannt – ein großer Geist! Ferrand hatte es? Merkwürdig. Nun – hast du in diesem Buch auch schon studiert?«
»Ja.«
»Und was hast du daraus verstanden?«
»Ich bin erst am Anfang. In den letzten Tagen fiel es mir schwer, mich darauf zu konzentrieren, ich warte auf Joshua und bin unruhig. Und ich verstand nur so viel, dass uns diese Schrift in Stufen auf immer höhere Verständnisebenen führen will. Es ist eine Art Führer für eine geistige Reise.«
»Aber wohin geht diese Reise, mein Sohn? Das ist die Frage. Und wer sind die Begleiter?«
»Ich wüsste es gern, Theophil.«
»Nun, fürs Erste reicht es, zu wissen, dass uns die zehn Sephirot begleiten. Schau sie dir genau an!«
Henri starrte auf die vor ihm liegenden weißen Streifen, in die mit Seidenfäden das hebräische Alphabet eingestickt war. Er erkannte Buchstaben, Tierköpfe, Ornamente. Und die Inschrift: Ein Baum des Lebens ist die Kabbala denen, die an ihr festhalten.
»Das ist leicht zu verstehen.«
»Du erkennst also den Sinn der Vorstellung des Lebensbaumes, nicht wahr? Der Baum führt von der Wurzel über den Stamm bis zu den höchsten Zweigen an der Spitze. Die Spitze, das Dünnste, Zufälligste, Herausgetriebene, das ist die Erleuchtung. Der Stamm, den wir geneigt sind, als das Wichtigste zu begreifen, das ist nur das Sichtbare, Einfache. Das dünnste Zweiglein in der Höhe aber ist das Unaussprechliche. Es ist die höchste Einfachheit. So einfach wie ein Jota.«
»Ja.«
»Wenn du das nicht verstehst, wirst du scheitern. Aber verstehe es nicht nur durch deinen scharfen Verstand, den du zweifellos besitzt, sondern lasse es als mystische Einsicht in dich einsickern. Dann wirst du begreifen, dass die Einswerdung mit Gott gleichzeitig auch eine Selbsterkenntnis ist. Gelingt dir dieses Zusammenfügen nicht, dann ist alles nichts wert. Dann schwankst du wie ein abgestorbener Ast an der Spitze des Lebensbaumes im kalten Wind.«
Am Sabbath gab es keinen Unterricht. Henri nutzte die Pause, um sich zu entspannen. Dass Ferrand ihn an diesem freien Tag begleitete, gefiel ihm gar nicht. Aber der Eiferer schien sich ebenfalls über einen Tag ohne Anstrengung zu freuen.
»Das Studium ist schwer – findest du nicht? In der Bibliothek gibt es fünfzigtausend Bücher! Fünfzigtausend Sefer, wie sie sagen, und alle sind dick und gewichtig. Es kann einem zusetzen.«
Henri musste zum ersten Mal in Gegenwart des Franzosen lachen. »Du scheinst kein richtiger Student zu sein! Ein richtiger Student freut sich über jedes Buch.«
»Ich freue mich über ein Buch, vor allem, weil sie hier gutes Papier haben. Aber fünfzigtausend!«
Die beiden Männer beschlossen, gemeinsam in Toledo herumzuschlendern. Von einem Besuch aller christlichen Kirchen der Stadt versprach sich Henri eine Anhebung seiner immer noch düsteren Stimmung.
Während sie von einem Gotteshaus zum anderen gingen, still beteten und danach die duftende Luft Toledos genossen, die von den grünen, mit Zypressen und Wacholder bestandenen Hängen herunterfächelte, erzählte Ferrand von sich. Er hatte lange als Weinhändler an der französischen Ardeche gelebt, war dann im deutschen Bacharach am Rhein, wo es eine große Judengemeinde gab, auf Theophil von Speyer gestoßen. Er hatte, im Gegensatz zu den meisten Adligen, Lesen und Schreiben gelernt und beschlossen, die Geschichte der Juden zu studieren. »Das habe ich in Tours getan, wo unser Stammsitz ist. Ich bin im christlichen Glauben erzogen worden, habe aber geglaubt, mich auch für andere Religionen öffnen zu können. Aber es ist mir nicht gelungen.«
»Hier hast du ja jetzt Gelegenheit dazu«, sagte Henri.
Ferrand blickte verschwörerisch. »Mein Freund, ich sage dir was! Ich glaube nicht, dass ich mich mit der Geschichte der Hebräer anfreunden kann. Es bleibt mir alles fremd.«
»Versuche es!«
»Ich habe das Gefühl, die Juden Spaniens
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