Die Verschwoerung von Whitechapel
zugefügt. Sie war Zeugin vieler Schwächen und Fehlschläge ihrer Mitmenschen geworden, hatte jedoch ebenso ihre Erfolge erlebt.
»Die Morde von Whitechapel«, sagte sie leise. In ihrer Stimme schwang namenloses Entsetzen. »Und dieser Remus will die Beweise finden und sie an die Zeitungen verkaufen.«
»Ja – jedenfalls sagt Tellman das. Das wäre die Sensation des Jahrhunderts. Die Regierung wird darüber wahrscheinlich zu Fall kommen, und der Thron nahezu mit Sicherheit«, antwortete Charlotte.
»So ist es.« Ohne sich zu rühren, sah Vespasia mit nahezu blinden Augen in eine Ferne, die gleichwohl eher in ihr als außerhalb ihrer lag. »Dann wird es zu einem Ausbruch von Gewalt und zu einem Blutvergießen kommen, wie England es seit Cromwells Zeiten nicht erlebt hat. Großer Gott, wie viel Übel, um Übel zu vergelten! Man würde dabei eine Verderbnis durch die andere ersetzen, und alles Elend wäre umsonst.«
Charlotte beugte sich ein wenig vor. »Können wir denn nichts dagegen tun?«
»Ich weiß nicht«, gestand Vespasia. »Wir müssen in Erfahrung bringen, wer Remus’ Hintermänner sind und welche Rolle Dismore oder Gleave bei der Sache spielen. Was wollte Adinett in der Cleveland Street? Wollte er Remus mit Material versorgen oder ihm in den Arm fallen?«
»Letzteres«, sagte Charlotte spontan. »Das glaube ich jedenfalls …« Dann merkte sie, wie wenig sie in Wahrheit wusste. Fast alles stützte sich auf Vermutungen und Angst. Gewiss waren Fetters und Adinett mit in die Verschwörung verwickelt, doch wusste sie nicht zweifelsfrei, auf welche Weise. Dabei durften sie sich nicht den kleinsten Fehler leisten. Sie berichtete Vespasia von Gleaves Besuch und dessen Wunsch, Martin Fetters’ Papiere zu finden. Sie beschrieb, auf welche Weise sie
sich durch den Anwalt bedroht fühlte. Während sie all das in diesem lichten, goldenen Zimmer sagte, klang es ihr selbst mehr wie eine Einbildung als etwas Wirkliches.
Doch Vespasia schien ihr abzunehmen, was sie sagte, und hörte weiterhin aufmerksam zu.
Dann berichtete ihr Charlotte von Junos Überzeugung, dass es weitere Papiere geben müsse, von ihrem Besuch bei Thorold Dismore und ihrer Vermutung, er sei ein wahrer Anhänger der Republik und willens, alles, was er finden oder tun konnte, zur Durchsetzung seiner Ziele zu verwenden.
»Möglich«, gab ihr Vespasia mit einem angedeuteten Lächeln Recht. Dabei trat ein vager Ausdruck von Trauer auf ihre Züge. »Es ist ein durchaus edles Bestreben. Ich bin zwar nicht damit einverstanden, aber ich kann vieles davon verstehen und bewundere diejenigen, die sich dafür einsetzen.«
Etwas an der Art, wie sie das sagte, veranlasste Charlotte, nicht mit ihr darüber zu rechten. Mit einem Mal ging ihr auf, um wie viel älter Vespasia war und über einen wie großen Teil von deren Leben sie nichts wusste. Dennoch liebte sie sie mit einer Tiefe des Gefühls, die nichts mit dem Ablauf der Zeit oder mit der Nähe durch Verwandtschaft zu tun hatte.
»Lass uns darüber nachdenken«, sagte Vespasia nach einer Weile. »Versuch möglichst viel zu erfahren, ohne dich dabei in Gefahr zu bringen. Du solltest wirklich äußerst vorsichtig sein, meine Liebe. Wir haben es hier mit Leuten zu tun, denen ein Menschenleben nichts bedeutet, wenn es darum geht, ganzen Völkern das zu bringen, was sie als deren Heil ansehen. Sie sind der Überzeugung, dass der Zweck die Mittel heiligt und sie daher das Recht haben, alles zu tun, was ihrer Ansicht nach nötig ist, um ihre Absichten zu verwirklichen.«
Charlotte fühlte sich in diesem hellen Raum von einer Dunkelheit und einer Kühle umgeben, als wäre die Nacht verfrüht hereingebrochen. Sie stand auf.
»Das werde ich tun. Aber ich muss unbedingt zu Thomas – muss es ihm sagen.«
Vespasia lächelte. »Natürlich. Ich wollte, ich könnte dich begleiten, doch das wird wohl nicht gehen. Bitte grüß ihn von mir.«
Impulsiv trat Charlotte vor, beugte sich über Vespasia und schloss sie in die Arme. Sie gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging, ohne dass eine von beiden noch etwas sagte.
Auf dem Rückweg ging Charlotte an Tellmans Wohnung vorbei und wartete zur Bestürzung seiner Wirtin über eine halbe Stunde, bis er schließlich aus der Bow Street zurückkehrte. Ohne Umschweife bat sie ihn, sie am folgenden Morgen nach Spitalfields zu bringen, damit sie Pitt auf seinem Weg zur Arbeit in der Seidenweberei sprechen konnte. Er malte ihr die Gefahren eines solchen Vorhabens aus und
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