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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ohne das geringste Zögern an Juno weiter. War das ein Hinweis auf seine Ehrlichkeit oder darauf, dass er sie bereits gelesen hatte?
    Fast ohne einen Blick darauf zu werfen, nahm sie ihn mit einem angespannten Lächeln entgegen, das verriet, wie viel Kraft es sie kostete, ihre Fassung zu bewahren.
    »Danke, Mr. Dismore«, sagte sie. »Natürlich werde ich Ihnen alles zurückgeben, was zu drucken sich lohnt.«
    »Bitte, tun Sie das«, sagte er mit Nachdruck. »Ich würde übrigens wirklich gern sehen, was Sie noch haben, und auch, was Sie womöglich noch finden. Darunter könnten Dinge sein, deren Wert sich nicht auf den ersten Blick erschließt.«
    »Gewiss«, stimmte sie zu und neigte den Kopf. Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, vielleicht wollte er seiner Bitte mehr Nachdruck verleihen, doch überlegte er es sich anders. Er lächelte ihr voll Wärme zu. »Danke, dass Sie gekommen sind, Mrs. Fetters. Sicher wird es uns gelingen, gemeinsam einen Artikel zusammenzustellen, der in denkbar bester Weise die Erinnerung an Ihren Gatten wach hält, genau so, wie er es sich wünschen würde. Seine Ziele waren wirkliche Freiheit sowie Gerechtigkeit und Gleichheit für jeden, und so wird es kommen! Er war ein bedeutender Mann und ein glänzender Visionär, der überdies den Mut hatte, für seine Überzeugungen einzutreten. Ich betrachte es als eine Gunst, ihn gekannt zu haben und Teil dessen zu sein, was er bewirkt hat. Es ist eine Tragödie, dass er uns so früh genommen wurde, noch dazu in einer Zeit, in der wir ihn so dringend brauchen könnten. Ich teile Ihren Kummer.«
    Reglos und mit weit geöffneten Augen stand Juno da. »Danke«, sagte sie. »Danke, Mr. Dismore.«
    Nachdem sie das Gebäude verlassen hatten und in der Sicherheit der ersten Droschke saßen, die vorübergekommen war, wandte sie sich an Charlotte, den Umschlag mit den Papieren fest in der Hand.
    »Er hat sie gelesen, doch es steht nichts darin.«
    »Das nehme ich auch an«, stimmte sie zu. »Was von den Papieren fehlt, ist nicht das, was er uns heute gegeben hat.«
    »Glauben Sie, dass sie unvollständig sind?«, fragte Juno und betrachtete den Umschlag. »Ob er den Rest behalten hat? Ich würde schwören, dass er Republikaner ist.«
    »Ich weiß nicht recht«, sagte Charlotte. Es war ihr unmöglich gewesen, zu erfassen, wer Dismore wirklich war. In Bezug auf ihn war sie inzwischen unsicherer denn je.
    Schweigend fuhren sie zur Coram Street zurück und gingen in Junos Haus gemeinsam alles durch, was ihnen Dismore gegeben hatte. Es waren lebhaft beschriebene Szenen, aus denen Leidenschaft und der Hunger nach Gerechtigkeit sprachen. Wieder einmal war Charlotte zerrissen zwischen ihrer Zuneigung zu Martin Fetters mit seiner Begeisterung, seinem Mut, seinem Bestreben, allen Menschen die Vorrechte einzuräumen, die er genoss, und dem Schrecken vor der dazu nötigen Zerstörung so vieler Dinge, die ihr am Herzen lagen. Nirgends aber fand sich der geringste Hinweis darauf, dass er etwas über die Morde von Whitechapel oder deren Hintergründe gewusst hätte, und auch keinerlei Pläne, die hätten erkennen lassen, dass Remus beauftragt werden sollte, diese Morde an die Öffentlichkeit zu bringen, mit allen Folgen, die sich daraus ergeben würden.
    Als Charlotte fort war, machte sich Juno daran, alles noch einmal durchzulesen. Trotz ihrer seelischen Erschöpfung konnte sie die Papiere unmöglich aus der Hand legen.
    Während Charlotte zur Haltestelle des Pferde-Omnibusses ging, wirbelte in ihrem Kopf alles durcheinander. Sie wollte dringend mit Pitt sprechen, aber gerade das war nicht möglich. Tellman wusste nur äußerst wenig über die Welt, in der Dismore, Gleave oder die anderen Männer lebten, die wohl die Führung des Inneren Kreises bildeten. Der einzige Mensch, dem sie zurzeit trauen konnte, war Tante Vespasia.
     
    Glücklicherweise war Lady Vespasia nicht nur zu Hause, sondern auch allein. Sie begrüßte Charlotte voll Herzlichkeit, sah ihr aufmerksam ins Gesicht und hörte schweigend zu, während diese berichtete, was Tellman und Gracie in Erfahrung gebracht hatten und wie der jungen Frau am Mitre Square
unvermittelt die ganze entsetzliche Bedeutung der Sache aufgegangen war.
    Lady Vespasia rührte sich nicht. Das Licht von den Fenstern spielte auf den zarten Linien ihrer Haut, die Zeugnis ihrer Kraft und ihres Alters waren. Sie hatte mit den Jahren noch gewonnen, die Zeit hatte ihren überschäumenden Mut gebändigt, ihr aber auch Verletzungen

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