Die Verschwoerung von Whitechapel
Straßen, die Wut und die Angst um ihn herum nicht wahrnehmen.
Am Abend kehrte er früh in die Heneagle Street zurück. Isaak war noch nicht zu Hause, und Lea machte sich in der Küche zu schaffen.
»Sind Sie das?«, rief sie, als sie seine Schritte auf den untersten Treppenstufen hörte.
Er nahm den kräftigen Geruch aus der Küche wahr, in dem der Duft verschiedener Kräuter lag. Inzwischen hatte er die ungewohnte Kost zu schätzen gelernt.
»Ja«, gab er zur Antwort. »Wie geht es Ihnen?«
Sie antwortete auf Fragen nie direkt. »Haben Sie Hunger? Sie sollten mehr essen … und nicht immer noch spät nachts in der Fabrik arbeiten. Das ist nicht gut für Sie.«
Er lächelte. »Ja, ich habe Hunger, und heute habe ich die Frühwache.«
»Dann kommen Sie am besten gleich und essen etwas!«
Er ging nach oben, um sich Hände und Gesicht zu waschen. Auf der Kommode lag seine frisch gewaschene Wäsche. Er nahm das oberste Hemd zur Hand und sah, dass Lea die verschlissenen Manschetten gewendet hatte.
Eine Welle des Heimwehs überflutete ihn. Einen Augenblick lang war es so überwältigend, dass er den Raum um sich herum fast nicht wahrnahm. Es war eine einfache häusliche Aufgabe, wie Charlotte sie ständig ausführte. Er hatte gesehen, wie sie ganze Abende damit zugebracht hatte, Kleidungsstücke zu flicken, Kragen oder Manschetten zu wenden, wobei die in winzigen Stichen durch den Stoff hin und her eilende Nadel leise gegen den Fingerhut stieß und silberne Lichtreflexe darauf zauberte.
Dann übermannte ihn namenloser Zorn. Niemand fragte all die Frauen wie Lea Karansky, ob sie eine Revolution wollten oder welchen Preis sie für die Vorstellung anderer von Gesellschaftsreform
und Gerechtigkeit zu zahlen bereit waren. Vielleicht wollten sie nichts weiter, als ihre Angehörigen abends in der Sicherheit des eigenen Heims zu wissen und genug Geld, um ihnen etwas Anständiges zum Essen vorsetzen zu können.
Es war Pitt klar, wie viel Zeit es Lea gekostet hatte, sein Hemd zu flicken. Er musste ihr danken, ihr zeigen, dass ihm ihre Freundlichkeit bewusst war, vielleicht mit ihr über etwas Interessantes reden. Oder besser noch, ihr aufmerksam zuhören.
Nach dem Abendessen ging er hinüber zur Zuckersiederei. Auf seinen Zügen lag ein Lächeln der Erinnerung an das, was ihm Lea berichtet hatte. Gerade, als er in den Fabrikhof trat, kam Wally Edwards, mit dem er gemeinsam Wache halten sollte.
»Ach, du wieder!«, sagte Wally fröhlich. »Was tust du eigentlich mit dem vielen Geld? Tagsüber Seide und nachts Zucker – ich kann dir flüstern, dass irgendjemand von deiner Arbeit herrlich und in Freuden lebt.«
»Ja, ich – später mal!«, sagte Pitt augenzwinkernd.
Wally lachte. »Ich hab da ’ne schöne Geschichte über ’nen Kerzenzieher und ’ne alte Frau gehört.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, erzählte er sie genussvoll und in allen Einzelheiten.
Eine Viertelstunde später machte Pitt seine erste Runde in seinem Revier, während Wally, noch immer leise in sich hineinlachend, in die Gegenrichtung ging. Nachts arbeitete nur eine Rumpfbelegschaft, die dafür sorgen musste, dass das Feuer unter den Kesseln nicht ausging. Pitt sah in alle Räume, stieg die schmalen Treppen empor. Da die Fenster winzig waren, wirkte das Gebäude bei Tag von außen fast blind. Jetzt wurden sie durch überall brennende Gaslampen erhellt, deren Flammen sorgsam gehütet werden mussten, denn die Rohmasse des Zuckers war hochentzündlich.
In jedem der Räume, durch die er kam, standen große und kleine Bottiche, riesige Kessel und große flache Sudpfannen. Die wenigen Männer, die dort arbeiteten, sahen sich zu ihm um, er sprach einige Worte mit ihnen und ging weiter. Überall lag der Geruch nach fauliger Süße in der Luft. Es kam ihm vor, als werde er ihn nie mehr aus seinen Haaren und seiner Kleidung bekommen.
Eine halbe Stunde später meldete er sich bei Wally. Sie hatten ihren Wasserkessel auf die im Hof brennende Kohlenpfanne gestellt. Auf Fässern sitzend, in denen der Rohzucker von den Westindischen Inseln kam, nahmen sie winzige Schlucke von ihrem Tee, bis er kühl genug war, um ihn richtig zu trinken. Sie erzählten einander lange Geschichten und Witze, die nicht immer sonderlich lustig waren. Darauf aber kam es nicht an; wichtig war die Kameradschaft.
Ein- oder zweimal regte sich etwas im Schatten. Beim ersten Mal ging Wally hin und kam mit der Meldung zurück, es müsse wohl eine Katze gewesen sein. Beim zweiten Mal
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