Die Verschwoerung von Whitechapel
sich schon viel zu lange dort auf. Das durfte keinesfalls jemand merken, denn in einem Fall wie diesem würde jeder normale Mensch unverzüglich Alarm schlagen.
Er riss die Schubladen aus dem Schreibtisch, leerte sie auf dem Boden aus und ließ dann die Akten folgen. Er fand einen geringen Geldbetrag, brachte es aber nicht über sich, ihn einzustecken. Stattdessen legte er das Geld unter eine der Schubladen und schob sie wieder an Ort und Stelle. Es war keine ideale Lösung, aber er musste sich damit zufrieden geben.
Rasch blätterte er einige andere Papiere durch, um zu sehen, ob es weitere Hinweise auf das Darlehen an den Prinzen gab. Es sah ganz so aus, als hätte alles mit der Zuckersiederei und deren Verwaltung zu tun – es waren Aufträge und Quittungen sowie einige Vertragsentwürfe. Ein Brief erregte seine Aufmerksamkeit, denn er kannte die Handschrift. Während er ihn rasch las, überlief ihn ein Kälteschauer.
Mein lieber Freund,
Sie bringen unserer Sache ein äußerst edelmütiges Opfer. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr Sie in unserem Kreis bewundert werden. Wenn Sie der Hand eines bestimmten Menschen zum Opfer fallen, wird das einen Brand entzünden, der sich nie löschen lässt. Man wird seinen Schein in ganz Europa sehen und Ihren Namen voll Ehrfurcht auf immer als den eines Helden des Volkes im Gedächtnis bewahren.
Noch dann, wenn Gewalttaten und Tod längst vergessen sind, werden Friede und Wohlstand der einfachen Menschen späterer Generationen Ihr Denkmal sein.
In tiefster Ehrerbietung
Ihr
Die Unterschrift war so unleserlich, dass sie für jeden beliebigen Namen stehen konnte. Blitzartig war Pitt aufgegangen, dass der Verfasser von Sissons’ Ruin und wohl auch von seinem bevorstehenden Tod gewusst hatte. Die Formulierung ließ das trotz ihrer Mehrdeutigkeit vermuten.
Auch diesen Brief musste er sofort vernichten. Schon hörte er Schritte im Gang vor der Tür. Er war zu lange fortgeblieben. Bestimmt wollte Wally nachsehen, ob alles in Ordnung war.
Er riss den Brief in Stücke. Um ihn verschwinden zu lassen, blieb keine Zeit mehr, aber zumindest würde man ihn nicht lesen können. Er musste unbedingt eine Möglichkeit finden, die Reste beider Briefe und die Waffe in einen der Bottiche zu werfen.
Auf dem Weg zur Tür fiel ihm ein, woher er die Handschrift kannte. Als ihm die volle Bedeutung dessen aufging, was er da gesehen hatte, geriet er ins Stolpern und stieß gegen den Schreibtisch. Er hatte die Handschrift während der Untersuchung von Martin Fetters’ Tod gesehen – sie gehörte John Adinett!
Benommen blieb er einen Augenblick stocksteif stehen. Das Bein, mit dem er an die Tischkante gestoßen war, schmerzte, doch das merkte er kaum.
Wallys Schritte waren unmittelbar vor der Tür zu hören.
Adinett hatte also den Plan gekannt und Sissons wegen seiner Märtyrerrolle in den höchsten Tönen gelobt. Damit war
klar, dass er alles andere als der Monarchist war, für den man ihn gehalten hatte – doch warum hatte er dann Martin Fetters getötet?
Die Tür ging auf, und Wally steckte den Kopf herein. Die Laterne in seiner Hand, deren Lichtschein nach oben fiel, ließ sein Gesicht geisterhaft wirken. »Alles in Ordnung, Tom?«, fragte er besorgt.
»Sissons ist tot«, gab Pitt zur Antwort. Er hörte überrascht, wie heiser seine Stimme klang, und merkte, dass seine Hände zitterten. »Sieht ganz so aus, wie wenn ihn jemand erschossen hätte. Ich hol die Polizei. Du bleibst am besten hier und siehst zu, dass sonst keiner reinkommt.«
»Erschossen!«, entfuhr es Wally. »Warum denn bloß?« Er sah zu der Gestalt hinüber, die reglos auf dem Schreibtisch lag. »Großer Gott! Armer Kerl. Und was passiert jetzt?« Pitt hörte seine Besorgnis nicht nur am Klang der Stimme, er sah sie auch auf seinem entsetzten Gesicht.
Die Pistole und die Fetzen der beiden Briefe brannten förmlich in seiner Tasche.
»Keine Ahnung, aber wir sollten besser sofort die Polizei holen.«
»Die sagen bestimmt, dass wir das waren!«, entfuhr es Wally voll panischer Angst.
»Bestimmt nicht«, beruhigte ihn Pitt, obwohl auch er das befürchtete. »Wir haben gar keine Wahl.« Er ging an Wally vorüber zur Tür hinaus und hielt seine Laterne hoch, damit er etwas sehen konnte. Sobald er an einem unbeaufsichtigten Bottich vorüberkam, musste er sich der Pistole entledigen.
Im ersten Raum machte sich ein Arbeiter zu schaffen, der teilnahmslos den Blick hob, und im zweiten war es ebenso. Im nächsten Raum hielt
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