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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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sah Pitt nach. Einer der Arbeiter, der hinter einem Fässerstapel lag, hatte sich im Schlaf bewegt, wobei ein Fass über das Pflaster gerollt war.
    Wieder und wieder machten sie ihre Runde.
    Einmal sah Pitt einen Mann davongehen, den er nicht kannte. Er schien älter zu sein als die meisten der Arbeiter, doch ließ das Leben in Spitalfields die Menschen früh altern. Pitt fiel sein kräftig geschnittenes Gesicht von dunklem Teint auf. Der Mann hielt den Blick abgewandt. Als er kurz die Hand wie zum Gruß hob, brach sich das Licht einen flüchtigen Augenblick lang in einem Ring mit einem dunklen Stein. Pitt kehrte in den Hof zurück zu Wally, der wieder den Kessel aufgesetzt hatte.
    »Gehen um diese Zeit viele Männer nach Hause?«, erkundigte er sich.
    Wally zuckte die Achseln. »’n paar. Is zwar ’n bisschen früh, aber wenn se blei’m, dankt’s ihnen auch keiner. Wahrscheinlich will er nach Hause, sich in die Falle hauen. Von mir aus soll er. Ich wär jetzt auch gern in mei’m Bett«, sagte er und nahm den Kessel vom Feuer. »Hab ich dir eigentlich schon mal erzählt, wie ich auf’m Kanal nach Manchester gefahren bin?« Ohne auf Pitts Antwort zu warten, begann er zu erzählen.
    Der Mann mit dem Ring ging Pitt nicht aus dem Kopf. Zwei Stunden später sah er bei seiner nächsten Runde im obersten Stockwerk am Ende des Ganges die Tür zu Sissons’ Kontor einen Spalt weit offen stehen. Es kam ihm vor, als sei sie bei der vorigen Runde geschlossen gewesen. Hatte sich etwa einer der Arbeiter darin zu schaffen gemacht?
    Er stieß die Tür auf und hob seine Blendlaterne. Aus den Fenstern des Raumes, der größer war als die anderen, sah er von der Höhe des sechsten Stocks herab über die Dächer hinweg im schwachen Schimmer des allmählich heraufdämmernden Morgens einen silbrigen Schein. Dort war Süden, dort floss die Themse.
    Mit nach wie vor erhobener Laterne sah er sich aufmerksam um.
    Sissons saß zusammengesunken an seinem Schreibtisch, sein Gesicht lag auf der polierten Tischplatte. In seiner rechten Hand hielt er eine Pistole. Auf dem Holz des Tisches und dem Leder der Schreibunterlage sah man Blut. Grellweiß und von keinem Blutstropfen berührt lag ein Blatt Papier vor ihm. Das Tintenfass stand rechts in seiner kleinen Vertiefung, der Gänsekiel steckte in seinem Halter, das Federmesser lag daneben.
    Mit unbehaglichem Gefühl trat Pitt die zwei Schritte zu Sissons, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass alles so blieb, wie es war. Auf dem Boden sah er weder Fußabdrücke noch Blut. Er berührte Sissons’ Wange. Sie war fast kalt. Er war wohl schon seit zwei oder drei Stunden tot.
    Er drehte sich um und las, was in ordentlicher Buchhalterschrift auf dem Blatt stand.
    Obwohl ich alles getan habe, was ich konnte, habe ich versagt. Man hat mich gewarnt, aber ich habe nicht darauf gehört. In meiner Torheit nahm ich an, ein Prinz von Geblüt, der Thronerbe Englands und damit eines Viertels der Welt, würde sein Wort halten. Ich habe ihm Geld geliehen, alles, was ich auftreiben konnte, zu minimalen Zinsen und zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückzahlbar. Ich war überzeugt, damit einem Mann aus seiner finanziellen Verlegenheit helfen und gleichzeitig einen kleinen Ertrag erwirtschaften zu können, den ich zum Nutzen meiner Arbeiter in das Unternehmen investieren wollte.
    Wie blind ich war! Er hat bestritten, je Geld bekommen zu haben, und ich bin am Ende. Man wird mir die Fabriken nehmen, tausendfünfhundert Männer werden ihre Arbeit verlieren, und alle, die von ihnen abhängen, sind gleich ihnen dem
Untergang geweiht. Das ist meine Schuld, denn ich habe einem Menschen vertraut, der die Bezeichnung Ehrenmann nicht verdient. Ich kann unmöglich weiterleben, kann den Männern nicht ins Gesicht sehen, deren Leben ich zugrunde gerichtet habe.
    Mir bleibt nur ein einziger Ausweg. Gott möge mir verzeihen.
    James Sissons
    Neben dem Brief lag ein Schuldschein über zwanzigtausend Pfund. Er trug die Unterschrift des Kronprinzen. Die beiden Blätter verschwammen vor Pitts Augen. Der Raum schien um ihn zu schwanken, als befände er sich auf hoher See. Er stützte sich auf den Schreibtisch. Niemand konnte Sissons noch helfen. Wenn zu Arbeitsbeginn der erste Angestellte kam, seinen Arbeitgeber und neben ihm den Brief und den Schuldschein fand, würde das größeren Schaden anrichten als ein halbes Dutzend Dynamitladungen. Ein nicht zurückgezahltes Darlehen an den Kronprinzen, damit dieser Wein trinken, seinen

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