Die Verschwoerung von Whitechapel
Rennstall finanzieren und seinen Mätressen teure Geschenke machen konnte, während hier in Spitalfields eintausendfünfhundert Familien an den Bettelstab gebracht wurden! Läden würden schließen, Geschäftsleute Bankrott machen, Häuser würden mit Brettern vernagelt und Menschen müssten auf der Straße leben.
Es würde zu Aufständen kommen, im Vergleich mit denen der Blutige Sonntag vom Trafalgar Square wie eine Balgerei auf einem Kinderspielplatz aussähe. Was im Osten Londons geschehen würde, ließe sich nur mit einem Vulkanausbruch vergleichen.
Und wenn Remus das letzte Glied der Kette in die Hände bekam, das er brauchte, um zu beweisen, dass der Mörder von Whitechapel im Dienst der Krone gestanden hatte, würde es niemanden interessieren, ob die Königin, der Kronprinz oder wer auch immer davon gewusst oder es gewünscht hatte – es würde eine Revolution geben. Die Volkswut würde die alte Ordnung auf immer hinwegfegen, eine Schreckensherrschaft an ihre Stelle treten, und alles würde zerstört, Gutes wie Schlechtes.
Als Erstes würde das Rechtswesen leiden: Gesetze, die unterdrückten, wie auch solche, die allen den gleichen Schutz gewährten. Danach gäbe es kein Halten mehr. Niemand würde sich durch sein Gewissen von Gewalttaten abhalten lassen.
Pitt griff nach dem Brief. Wenn er ihn zerriss, würde niemand je erfahren, was der Hintergrund von Sissons Tod war. Wenn er ihm die Waffe fortnahm, sie verschwinden ließ, indem er sie in einen der Sirupbottiche warf, sähe es nach Mord aus. Die Polizei würde den Täter nie finden, denn es gab keinen.
Diese Seite der Verschwörung also ließ sich unterdrücken. In Spitalfields brauchte man nicht einmal dann Unruhen zu befürchten, wenn Remus seine Geschichte veröffentlichen sollte. Hier würde sich der Volkszorn gegen Sissons richten, nicht gegen den Thron.
Wollte Pitt das? Seine Hand verharrte über dem Blatt. Angenommen, der Kronprinz hatte Geld geborgt, um seiner Verschwendungssucht zu frönen, und war nicht einmal um den Preis zur Zurückzahlung bereit, dass tausende von Menschen ins Elend gestürzt wurden. Dann verdiente er es, davongejagt und seiner sämtlichen Vorrechte entkleidet zu werden, selbst wenn er dadurch vergleichsweise so mittellos dastünde wie es die Menschen in Spitalfields jetzt schon waren. Sogar wenn er in ein anderes Land fliehen musste, wäre sein Schicksal nicht schrecklicher als das vieler anderer Menschen. Er würde als Fremder einen neuen Anfang machen müssen, ganz wie das Isaak und Lea Karansky und zehntausende ihresgleichen getan hatten. Wenn man es recht bedachte, war letzten Endes ein Menschenleben wie das andere.
Welche Gerechtigkeit läge darin, wenn Pitt diese beispiellose Selbstsucht und schändliche Verantwortungslosigkeit nur deshalb deckte, weil es sich um den Thronerben des Landes handelte? Durch ein solches Verhalten würde er sich mitschuldig machen.
Wenn er es aber unterließ, würde der Strudel der Gewalttätigkeit, die dann ausbrechen würde, zahllose Menschen, die keinerlei Mitspracherecht besaßen, mitreißen; sie würden Opfer einer Zerstörungswut, die möglicherweise eine ganze Generation lang eine Spur von Armut und Elend hinter sich ließe.
In Pitts Gedanken herrschte Aufruhr. Alles, wofür er je gelebt hatte, sprach dagegen, die Wahrheit zu unterdrücken. Doch noch während er daran dachte, schloss sich seine Hand über dem Blatt. Er zerknüllte es, glättete es dann wieder und zerriss es in winzige Schnipsel. Ohne zu wissen, warum, schob er sich den Schuldschein unter das Hemd.
Er zitterte. Kalter Schweiß bedeckte seine Haut. Er hatte sich entschieden, jetzt gab es kein Zurück mehr.
Damit sich Sissons’ Tod glaubwürdig als Mord darstellen ließ, musste er dafür sorgen, dass es im Raum dementsprechend aussah. Er hatte oft genug an der Aufklärung von Mordfällen mitgewirkt, um zu wissen, worauf die Polizei achten würde. Sissons war seit mindestens zwei oder drei Stunden tot. Pitt brauchte nicht zu befürchten, dass man ihn verdächtigen würde. Am besten tarnte er das Ganze als Raubüberfall, dann kam ein möglichst großer Personenkreis als Täter infrage. Sofern die Polizei den Eindruck gewann, es handele sich um eine Tat, die auf Hass oder Rache zurückging, würde sie ihn unter Sissons’ Bekannten suchen.
Befand sich Geld im Kontor? Zumindest musste der Zustand des Raumes den Anschein erwecken, als hätte jemand danach gesucht, und zwar schnell und entschlossen. Pitt hielt
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