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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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sich niemand auf, und Pitt hob den Deckel des Bottichs, wobei ihm der Geruch der zähen Flüssigkeit in die Nase stieg. Da die Papierfetzen darin bestimmt nicht untergehen würden, er aber auf keinen Fall wollte, dass man sie bei ihm fand, denn man konnte die Briefe mit etwas Mühe bestimmt noch zusammensetzen, musste er sie hineinrühren. So warf er die Stückchen auf die Oberfläche und rührte mit dem Pistolenlauf um, bis nichts mehr von ihnen zu
sehen war. Anschließend ließ er die Pistole folgen und sah zu, wie sie langsam sank.
    Sobald nichts mehr von ihr zu sehen war, kehrte er in den langen Korridor zurück und eilte nach unten. Er verließ das Gelände durch das Tor und ging durch die Brick Lane in Richtung Whitechapel High Street. Inzwischen hatte sich die Dämmerung über den Himmel ausgebreitet, doch würde es noch eine Weile dauern, bis es hell wurde. Die Straßenlaternen leuchteten wie sterbende Monde am Rande des Gehwegs und warfen bleiche Lichtflecken auf nasse Pflastersteine.
    Gleich um die Ecke stieß er auf einen Streifenpolizisten.
    »He! Wen haben wir denn hier?«, sagte der Mann und vertrat Pitt den Weg. Er konnte nur seinen Umriss erkennen, weil sie zwischen zwei Straßenlaternen standen, aber er war sehr groß und wirkte in seinem Umhang und mit seinem Helm ausgesprochen massig. Zum ersten Mal im Leben hatte Pitt Angst vor einem Polizeibeamten, und er fühlte sich elend.
    »Jemand hat auf Mr. Sissons geschossen«, stieß er mit keuchendem Atem hervor. »Oben in seinem Kontor, in der Fabrik in der Brick Lane.«
    »Geschossen?«, fragte der Beamte. »Sind Sie sicher? Is er schwer verletzt?«
    »Er ist tot.«
    Einen Augenblick war der Mann so verblüfft, dass er nichts sagte, doch fasste er sich rasch. »Dann muss jemand auf die Wache und Inspektor Harper Bescheid sagen. Wer sind Sie, und wie ha’m Sie Mr. Sissons gefunden? Gehören Sie zur Nachtwache?«
    »Ja. Mein Name ist Thomas Pitt. Wally Edwards ist bei ihm. Er ist der andere Nachtwächter.«
    »Aha. Wissen Sie, wo die Wache von Whitechapel is?«
    »Ja. Soll ich den Leuten da Bescheid sagen?«
    »Ja. Sagen Sie, Wachtmeister Jenkins hat Sie geschickt, und ge’m Sie zu Protokoll, was Sie in der Fabrik gesehen ha’m. Ich geh da jetzt gleich hin. Verstanden?«
    »Ja.«
    »Also los.«
    Pitt gehorchte und rannte in Richtung Whitechapel davon.
Eine knappe Stunde später war er zurück in der Zuckersiederei, diesmal in einem der anderen ziemlich großen Räume im obersten Stockwerk, wo nun Inspektor Harper die Untersuchung leitete. Harper war mittelgroß, hatte ein stumpfes Gesicht und ein eckiges Kinn. Wachtmeister Jenkins stand an der Tür, Pitt und Wally in der Mitte des Raumes. Das Licht des frühen Morgens schien trüb durch den Rauch der vielen Schornsteine, während man in der Ferne die Sonnenstrahlen auf dem Wasser der Themse tanzen sah.
    »Also … wie heißen Sie?«, begann Harper. »Berichten Sie genau, was Sie gesehen und was Sie getan haben.« Er verzog finster das Gesicht. »Vor allem interessiert mich, was Sie in Mr. Sissons’ Privatkontor zu suchen hatten. Es gehört doch wohl nicht zu Ihren Aufgaben, dort hineinzugehen, oder?«
    »Die Tür stand offen«, gab Pitt zur Antwort. Seine Hände waren feucht und steif. »Normalerweise ist die Tür zu. Ich dachte, dass etwas nicht in Ordnung wäre.«
    »Schon gut, schon gut, Mann! Was also haben Sie genau gesehen?«
    Pitt hatte sich innerlich sorgfältig vorbereitet und wiederholte, was er dem wachhabenden Beamten in Whitechapel bereits gesagt hatte.
    »Mr. Sissons lag mit dem Oberkörper auf dem Schreibtisch, und ich konnte eine Blutlache sehen, sodass mir gleich klar war, dass er nicht schlief. Einige Schubladen standen halb offen. Sonst war niemand im Raum, und die Fenster waren zu.«
    »Warum sagen Sie das? Was für eine Rolle spielt das?«, wollte Harper wissen. »Wir sind hier im sechsten Stock!«
    Pitt merkte, dass er rot wurde. Auf keinen Fall durfte er zu rasch reagieren. Schließlich war er Nachtwächter und nicht Polizei-Oberinspektor.
    »Keine. Ist mir nur aufgefallen.«
    »Haben Sie etwas angefasst?«
    »Nein.«
    »Sind Sie sicher?« Harper sah ihn scharf an.
    »Ja, ganz sicher.«
    Harper machte ein misstrauisches Gesicht. »Nun, erschossen hat man ihn mit einer Faustfeuerwaffe – wo ist die?«
    Schreckerfüllt merkte Pitt, dass Harper damit die Möglichkeit andeutete, dass Pitt sie an sich genommen hatte. Er spürte, wie ihm das Schuldbewusstsein heiß ins Gesicht

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