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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Harper nichts lieber, als diesen Vorwand zu nutzen, um die antisemitische Stimmung zu schüren. Wenn er die Schuld für den Untergang der Zuckersiederei den Juden zuschieben konnte, würde das bestens zu seinen Absichten passen. Zwar war das nicht ganz so wirkungsvoll, als wenn man den Kronprinzen als Verantwortlichen hinstellte, aber besser als nichts war es allemal.
    Pitt behielt mit seiner Vermutung Recht. Als er gegen Mittag gehen durfte, war klar, dass Harper den Befragten so lange Antworten nahe gelegt und schließlich umformuliert hatte, bis sich aus den Aussagen dreier Angehöriger der Nachtschicht ein eindeutig beobachteter Eindringling herausgeschält hatte: ein schlanker Mann von dunklem Teint und jüdischem Aussehen. Der Gegenstand in seiner Hand, auf dem Licht schimmerte, hätte ohne weiteres ein Pistolenlauf sein können. Er hatte sich auf leisen Sohlen nach oben geschlichen, war nach einer Weile wieder unten aufgetaucht und in der Dunkelheit verschwunden.
    Pitt fühlte sich elender und hilfloser denn je zuvor im Leben. Seine Vorstellung vom Gesetz und alles, woran er glaubte, schienen plötzlich unterminiert. Korruption hatte er auch früher schon erlebt, aber das waren Einzelfälle gewesen, bei denen die Triebfeder Habgier oder die Ausbeutung der Schwächen anderer gewesen war. Doch ein solches Krebsgeschwür, das lautlos und ungesehen nicht nur in den Reihen jener um sich gegriffen hatte, die das Recht schufen und verwalteten, sondern sogar auch unter jenen, deren Aufgabe es war, ihm Geltung zu verschaffen, war ihm neu. Es gab keine Zuflucht, niemanden, an den sich ein Opfer um Hilfe wenden konnte.
    Während er durch die Brick Lane der Heneagle Street entgegen strebte, merkte er, dass ihn eine tief sitzende Angst erfasst hatte. Dies Gefühl quälte ihn zum ersten Mal seit seinen Kindertagen, als man seinen Vater fortgebracht und er begriffen
hatte, dass es keine Instanz gab, die ihn retten konnte, niemanden, der helfen würde. Und auch er selbst hatte nichts bewirken können; sie würden einander nie wiedersehen.
    Fast hatte er vergessen, wie entsetzlich dies Gefühl gewesen war, wie bitter die Enttäuschung und die Einsamkeit, die einen Menschen erfassten, wenn er merkte, dass er ans Ende seines Weges gekommen war. Es gab nichts außer dem, was er selbst tun konnte.
    Inzwischen aber war er kein Kind mehr, sondern ein Mann. Er konnte und würde etwas dagegen unternehmen! Er änderte die Richtung und ging der Lake Street entgegen, wobei er den Schritt beschleunigte.
    Sofern Narraway nicht da war, würde er den Flickschuster auffordern, nach ihm zu schicken. Er würde Narraway zwingen, Farbe zu bekennen, würde zumindest merken, auf welcher Seite dieser stand. Viel hatte er nicht mehr zu verlieren, und falls Remus mit seinen Bemühungen Erfolg hatte, würde ohnehin niemandem mehr etwas bleiben.
    Er überquerte die Straße und kam an einem Zeitungsjungen vorüber, der die Schlagzeilen ausrief. Im Unterhaus hatte der Abgeordnete McCartney angefragt, ob der Konflikt zwischen den politischen Parteien in Irland bewirken würde, dass friedliche Bürger nicht zur Abstimmung gehen konnten. Würde man sie schützen?
    In Paris hatte man Ravechol anarchistischer Umtriebe für schuldig befunden und zum Tode verurteilt.
    In Amerika war Mr. Grover Cleveland erneut als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei nominiert worden.
    Ein Zeitungsjunge in der Lake Street hielt ein großes Plakat mit der reißerischen Mitteilung in der Hand, James Sissons sei ermordet worden und dahinter stehe eine Verschwörung, die Spitalfields zugrunde richten wolle. Die Polizei habe bereits Zeugen, die in der Zuckerfabrik einen dunkelhaarigen Mann ausländischen Aussehens beobachtet hatten, und sei jetzt auf der Suche nach ihm. Zwar wurde das Wort »Jude« nicht benutzt, doch ging aus der Beschreibung ohne weiteres hervor, dass es einer sein könnte.
    Im Laden des Flickschusters hinterließ Pitt die Nachricht,
dass er sofort mit Narraway sprechen müsse. Ihm wurde mitgeteilt, er solle in einer halben Stunde wiederkommen.
    Bei seiner Rückkehr wartete Narraway auf ihn. Er saß nicht wie sonst da, sondern stand in dem winzigen Zimmer, als habe er Pitt genau in dem Augenblick erwartet, in dem er eintrat, und als gestatte es seine innere Unruhe nicht, sich zu verhalten wie sonst.
    »Nun?«, fragte er, kaum dass Pitt die Tür hinter sich geschlossen hatte.
    Mit einem Mal war Pitt unentschlossen. Seine Hände waren kalt und feucht,

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