Die Verschwoerung von Whitechapel
der Jahrzehnte so viel Verrat und Hinterlist miterlebt, dass nichts mehr sie zu entsetzen vermochte. Vielleicht aber auch hatte sie von ihm nie etwas anderes erwartet? Wie gut kannte er sie eigentlich? Warum war er so sicher gewesen, dass sie ihn für ehrenhaft hielt und alles, was er tat oder unterließ, sie nicht nur am Rande berührte?
»Du verstehst nicht«, gab er zur Antwort, wobei Schmerz und Zorn in seiner Stimme mitschwangen. »Ich habe von Wally Edwards, dem anderen Nachtwächter, erfahren, dass Sissons eine Verletzung an der rechten Hand hatte. Er wäre also gar nicht im der Lage gewesen, die Pistole abzufeuern und sich auf diese Weise das Leben zu nehmen. Ich habe dafür gesorgt, dass ein als Selbsttötung getarnter Mord wieder als Mord erschien.« Er holte tief Luft. »Außerdem glaube ich, den Täter gesehen zu haben, ahne aber nicht, wer das war. Ich weiß lediglich, dass ich ihm noch nie zuvor begegnet bin.«
Sie wartete, dass er weitersprach.
»Er war in fortgeschrittenem Alter, hatte dunkles, ins Graue spielendes Haar, einen dunklen Teint, ein schmales Gesicht und einen Siegelring mit einem dunklen Stein an der Hand. Sollte es einer der Juden aus der Gegend gewesen sein, war es einer, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.«
Sie blieb so lange schweigend sitzen, dass er zu fürchten begann, sie habe seine Worte nicht gehört oder nicht verstanden.
Er sah sie erwartungsvoll an. In ihren Augen lag unermessliche Trauer. Ihre Gedanken waren nach innen gerichtet, ohne dass er ahnte, worauf.
Er zögerte, da er nicht wusste, ob er sie unterbrechen sollte oder nicht. Fragen drängten sich in seinem Kopf. Wäre es besser gewesen, sie nicht mit dieser Geschichte zu belästigen? Erwartete er zu viel von ihr, hielt er sie für übermenschlich, und unterstellte er ihr eine seelische Kraft, die sie nicht besitzen konnte?
»Tante Vespasia …« Dann merkte er betreten, was er gesagt hatte. Sie war nicht seine Tante, sondern die angeheiratete Tante seiner Schwägerin. Er hatte sich zu viel herausgenommen. »Ich – «
»Ich habe dich gehört, Thomas«, sagte sie ruhig. In ihrer Stimme lag weder Zorn noch Gekränktheit, lediglich Verwirrung. »Ich habe überlegt, ob es sich dabei um ein geplantes Vorgehen handelte oder ob sich jemand eine günstige Gelegenheit zunutze gemacht hat. Da ich mir nicht gut denken kann, wie es zu einer solchen Gelegenheit gekommen sein könnte, muss es sich wohl um eine Tat handeln, die geplant wurde, um das Königshaus in Verlegenheit zu bringen oder, schlimmer noch, um Unruhen zu schüren, welche die Urheber dann für ihre Zwecke ausnutzen könnten …« Sie runzelte die Stirn. »Aber ein solches Verhalten ist ausgesprochen skrupellos. Ich …« Sie hob kaum merklich eine Schulter. Er sah, wie schmal sie unter der Seide des Morgenmantels war, und war verblüfft über die Stärke, die sich hinter ihrer Zerbrechlichkeit verbarg.
»Da ist noch mehr«, sagte er.
»Das denke ich mir«, gab sie zurück. »Für sich allein genommen ergibt das keinen Sinn. Damit würde nichts Dauerhaftes bewirkt.«
Mit einem Mal hatte Pitt den Eindruck, als wären sie wieder Verbündete. Er schämte sich, an ihrer Großmut gezweifelt zu haben. Dann suchte er nach den richtigen Worten und teilte ihr mit, was Tellman über die tragische Geschichte Annie Crooks und des Herzogs von Clarence berichtet hatte.
Ihr Gesicht wurde noch eine Schattierung blasser, und im Licht des hellen Morgens sah man auf ihren Zügen ihre Schönheit
und ihr Alter, die Leidenschaft, mit der sie im Laufe ihres Lebens alles betrachtet hatte. Die Tiefe des Empfindens und Verstehens ließ sich an ihren Augen und Lippen ablesen.
»Und wo hält sich dieser Remus zurzeit auf?«, fragte sie, als er geendet hatte.
»Das weiß ich nicht«, musste Pitt zugeben. »Vermutlich sucht er nach dem letzten fehlenden Glied in der Beweiskette. Wenn er es schon hätte, würde Dismore inzwischen die ganze Geschichte gedruckt haben.«
Vespasia schüttelte leicht den Kopf. »Nach allem, was du gesagt hast, muss ich annehmen, dass die Sache zum selben Zeitpunkt bekannt werden sollte wie Sissons’ angeblicher Selbstmord. Das hast du verhindert. Möglicherweise haben wir auf diese Weise einen oder zwei Tage Aufschub erreicht.«
»Um was zu tun?«, fragte er. In seiner Stimme lag wieder ein Anflug von Verzweiflung. »Ich weiß nicht, wem ich trauen darf. Jeder kann zum Inneren Kreis gehören!« Er spürte, wie ihn die Finsternis erneut umgab,
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