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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Gedanken sein Rasiermesser schärfte. Sich mit kaltem Wasser zu rasieren würde schmerzen – aber die Hälfte der Menschheit rasierte sich kalt!
    Was würde Charlotte in Bezug auf Sissons zu ihm sagen? Wichtiger noch, was würde sie denken? Wäre sie von ihm so enttäuscht, dass es einen Teil der Liebe, die er erst vor wenigen Tagen in ihren Augen erkannt hatte, abtöten würde? Man konnte einen Menschen wegen seiner Verletzlichkeit lieben, vielleicht fiel das sogar noch leichter, als wenn er nicht verletzlich war – aber moralische Schwäche und Täuschung waren nicht liebenswert. Was blieb, wenn das Vertrauen dahin war? Man empfand Mitleid … hielt Versprechen, weil sie gemacht worden waren … Und was war mit der Pflicht?
    Was hätte sie getan, wenn sie Sissons und den Brief gefunden hätte?
    Pitt sah sich in dem kleinen rechteckigen Spiegel an. Sein Gesicht sah aus wie immer, etwas müder, mit ein wenig tieferen Linien darin, aber die Augen waren wie immer und auch der Mund.
    Hatte er diese Möglichkeiten stets in sich getragen? Oder lag es daran, dass sich die Welt geändert hatte?
    Es würde zu nichts führen, dazustehen und immer wieder über die Dinge nachzugrübeln. Die Ereignisse würden nicht auf ihn warten, und seine unumstößliche Entscheidung hatte er bereits in jenem Augenblick in Sissons’ Kontor getroffen. Jetzt musste er retten, was zu retten war.
    Während er sich mit dem Rasiermesser über die Wangen fuhr, hatte sich in ihm die Erkenntnis herausgeschält, dass ihm von den wenigen Menschen, denen er traute, nur einer möglicherweise helfen konnte: Tante Vespasia. Ihrer Loyalität war er sich ebenso sicher wie ihres Mutes und – fast ebenso wichtig – ihres Zorns. Sie würde gleich ihm eine alles überwältigende Empörung bei der Vorstellung empfinden, was geschehen würde, wenn ein Aufstand im Londoner Osten losbräche und sich ausbreitete – oder wenn es gelänge, ihn niederzuschlagen und man einen Angehörigen der jüdischen Gemeinde für ein Verbrechen hängte, das er nicht begangen hatte,
weil in Vorurteilen befangene und korrupte Menschen das Gesetz anwendeten.
    Auch das wäre eine Art Sturz der Regierung, nur dass er tiefer ging. Nach außen hin sähe es aus, als betreffe er nur wenige Menschen, doch würden dadurch nicht letzten Endes alle korrumpiert? Sofern das Gesetz nicht zwischen Schuldlosen und Schuldigen unterschied, sondern die Machthaber sich seiner nach Belieben bedienen konnten, war es schlimmer als nutzlos. Dann war es ein Übel, das sich als etwas Gutes ausgab, bis es schließlich niemanden mehr täuschen konnte und verachtenswert wurde. Sofern es dahin kam, war nicht nur die Wirklichkeit von Recht und Gesetz dahin, sondern auch die Vorstellung beider in den Köpfen der Menschen zerstört.
    Seine Rasur war nicht besonders gelungen, doch das störte ihn weiter nicht. Er wusch sich im restlichen kalten Wasser und zog sich an. Er hatte nicht das Herz, Isaak und Lea zum Frühstück gegenüberzutreten, und unter Umständen auch gar nicht die Zeit dazu. Sofern das Feigheit war, zählte es an diesem Tag als lässliche Sünde.
    Er sagte hastig ›Guten Morgen‹ und verließ das Haus ohne weitere Erklärung. Eiligen Schrittes ging er durch die Brick Lane über die Whitechapel High Street bis nach Aldgate zum Bahnhof der Untergrundbahn. Ungeachtet der unpassenden Uhrzeit musste er mit Tante Vespasia sprechen.
    Die Morgenzeitungen waren voller Berichte über den Mord an Sissons. Es gab sogar eine Tuschzeichnung des angeblichen Mörders. Sie stützte sich auf die Beschreibungen, die Harper den widerstrebenden Arbeitern der Nachtschicht in der Zuckersiederei und einem Mann entlockt hatte, der in der Brick Lane unterwegs gewesen war und jemanden gesehen hatte. Mit ein wenig Fantasie konnte man in dem Gesicht auf der Zeichnung Saul, Isaak oder ein Dutzend anderer Männer sehen, die Pitt kannte. Schlimmer noch als das Bild selbst war die darunter gedruckte Behauptung, der Mord habe mit einem Darlehen zu Wucherzinsen und der Weigerung zu tun, es zurückzuzahlen.
    Pitt war aufgebracht und fühlte sich elend, aber ihm war klar, dass es keinen Sinn hatte, etwas dagegen sagen zu wollen. Wer
Angst vor der Armut hatte, war nicht bereit, auf die Stimme der Vernunft zu hören.
    Er traf noch vor neun Uhr an Tante Vespasias Haus ein. Sie war noch nicht aufgestanden. Das Mädchen, das an die Tür kam, zeigte sich verblüfft, dass um diese Stunde überhaupt jemand kam – und dann auch noch Pitt

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