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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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in ungewöhnlich schäbigem Aufzug.
    »Ich muss dringend mit Lady Vespasia sprechen, sobald sie bereit ist, mich zu empfangen«, sagte er ohne seine übliche Höflichkeit. Seiner Stimme war anzuhören, dass die Sache drängte.
    »Ja, Sir«, sagte das Mädchen nach kurzem Zögern. »Treten Sie bitte näher. Ich werde der gnädigen Frau Mitteilung machen.«
    Er dankte ihr. Nur gut, dass er schon des Öfteren dort gewesen war, sodass sie ihn kannte. Bisher hatte sich Tante Vespasia gegen keinen seiner Besuche ausgesprochen.
    Während das Mädchen ging, blieb er im goldenen Frühstückszimmer stehen, aus dem der Blick in den Garten fiel.
    Eine Viertelstunde später kam Vespasia in einem langen elfenbeinfarbenen Morgenmantel aus Seide herunter, das Haar in aller Eile notdürftig aufgesteckt. Auf ihren Zügen lag Besorgnis.
    »Ist etwas geschehen, Thomas?«, fragte sie ohne Umschweife. Sie brauchte nicht hinzuzufügen, dass er abgezehrt aussah und ihr klar war, dass ihn kein normales Ereignis um diese Tageszeit und in seinem Zustand dort hingeführt hätte.
    »Sogar eine ganze Menge«, gab er zur Antwort, schob ihr einen Stuhl zurecht und hielt ihn, während sie sich setzte. »Es ist schlimmer und gefährlicher als alles, was ich mir je habe träumen lassen.«
    Sie wies auf die andere Seite des eleganten achteckigen Tisches. Ursprünglich war nur für eine Person gedeckt gewesen, aber das Mädchen, gewohnt, die Wünsche der Herrin des Hauses zu erahnen, hatte bereits ein zweites Gedeck aufgelegt.
    »Dann spann mich nicht länger auf die Folter«, forderte ihn Vespasia auf und sah ihn kritisch an. »Ich vermute, dass du das auch beim Frühstück erzählen kannst?« Es war keine wirkliche
Frage. »Doch ist es wohl zu empfehlen, dass du dich zurückhältst, solange die Dienstboten im Zimmer sind.«
    »Danke«, nahm er an. Allmählich löste sich die Verzweiflung ein wenig, die ihn erfüllt hatte, als er gekommen war. Überrascht erkannte er, wie nahe ihm diese bemerkenswerte alte Dame stand, die sich durch Abkunft und Lebenszuschnitt so grundlegend von ihm unterschied. Er betrachtete ihr schön geschnittenes Gesicht mit der zarten Haut, den Augen unter schweren Lidern, den feinen Linien des Alters und begriff, welchen unwiderbringlichen Verlust es auch für ihn bedeuten würde, wenn sie eines Tages nicht mehr da war. Er brachte es nicht einmal in seinen geheimsten Gedanken über sich, dabei das Wort ›tot‹ zu verwenden.
    »Thomas …«, mahnte sie.
    »Hast du über den Tod des Zuckerfabrikanten Sissons gelesen?«, fragte er.
    »Ja. Wie es aussieht, hat man ihn ermordet«, gab sie zur Antwort. »Die Zeitungen lassen durchblicken, dass jüdische Geldverleiher dahinter stecken. Es sollte mich wirklich wundern, wenn das stimmte. Vermutlich ist es etwas anderes, und du weißt auch schon, was.«
    »Ja.« Es war nicht der richtige Zeitpunkt, mit dem, was er wusste, hinter dem Berg zu halten. »Ich habe ihn selbst gefunden. Zuerst dachte ich an Selbstmord, denn vor ihm lag ein Abschiedsbrief.« Er berichtete in knappen Worten, was darin gestanden hatte, und gab ihr dann wortlos den Schuldschein, damit sie ihn selbst las.
    Sie warf einen Blick darauf, trat an ihren Sekretär und nahm eine handschriftliche Notiz heraus. Sorgfältig verglich sie beide und lächelte. »Ziemlich ähnlich«, sagte sie. »Aber nicht vollkommen gleich. Möchtest du ihn zurückhaben?«
    »Vermutlich ist er bei dir besser aufgehoben«, erwiderte er und empfand zu seiner Überraschung bei diesen Worten eine gewisse Erleichterung.
    Er berichtete ihr über Adinetts Brief und welche Schlussfolgerungen er daraus gezogen hatte.
    Während er sprach, sah er sie aufmerksam an und merkte, dass sie betrübt und verärgert zu sein schien, aber in keiner
Weise überrascht. Dass sie seinen Worten glaubte, war ihm ein gewisser Trost.
    Noch schwerer fiel es ihm, ihr zu sagen, was er getan hatte, doch das auszulassen gab es keine Möglichkeit. Es wäre unentschuldbar gewesen, jetzt persönlichen Empfindlichkeiten nachzugeben.
    »Ich habe beide Briefe zerrissen und die Pistole mitgenommen und alles in einen der Zuckerbottiche geworfen«, sagte er zögernd. »Damit es wie Mord aussah.«
    Sie nickte kaum wahrnehmbar. »Ich verstehe.«
    Er wartete, ob sie noch mehr sagte, vielleicht erklärte, wie sehr seine Handlungsweise sie überraschte, dass sie sich davon distanzierte, aber es kam nichts. Konnte sie so gut verbergen, was sie dachte? Möglich. Vielleicht hatte sie in Laufe

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