Die Verschwoerung von Whitechapel
Sie sah hinaus auf die kleine Rasenfläche, die im Sonnenschein lag.
»Ich habe mich in John Adinetts Gegenwart immer unbehaglich gefühlt und ihn gehasst, weil er Martin umgebracht hat«, sagte sie langsam. »Gott verzeih mir, ich war sogar froh, als sie ihn gehängt haben. Aber jetzt verstehe ich, warum er geglaubt hat, es tun zu müssen. Mir … mir ist das sehr unangenehm … aber ich denke, mir bleibt nichts übrig, als die Wahrheit zu sagen. Das macht Adinett zwar nicht wieder lebendig, wird aber die Schmach tilgen, die jetzt auf seinem Namen liegt.«
Charlotte war nicht sicher, was sie empfand. Auf jeden Fall war sie voll grenzenlosen Mitleids und voller Bewunderung. Was aber war mit Pitt? In gewisser Hinsicht war inzwischen zumindest verständlich, warum Adinett es für gerechtfertigt gehalten hatte, Fetters zu töten. Hätte man während des Prozesses seine Gründe gekannt, wäre er nie zum Strang verurteilt worden. Möglicherweise hätte man sogar Pitt Vorwürfe gemacht, weil er den Fall weiterverfolgt hatte.
Doch Adinett war zu keinerlei Erklärungen bereit gewesen. Woher also hätte man wissen sollen, was dahinter steckte? Nicht einmal Gleave hatte etwas gesagt. War es denkbar, dass auch er nichts gewusst hatte? Dann aber fiel ihr ein, mit welchem Gesichtsausdruck er Juno nach Martins Papieren gefragt hatte. Zwar hatte er nicht gedroht, doch sie und Juno hatten wie Kälte in ihren Knochen eine Drohung gespürt, die eindeutig in der Atmosphäre gelegen hatte.
Er wusste also Bescheid, hatte aber auf Fetters’ Seite gestanden!
Der arme Adinett hatte niemanden gehabt, an den er sich wenden, niemanden, dem er trauen konnte. Kein Wunder, dass er keinerlei Versuch unternommen hatte, sich zu retten, und schweigend in den Tod gegangen war. Vom Augenblick seiner Festnahme an war ihm wohl klar gewesen, dass nicht die geringste Aussicht bestand, die Sache zu seinem Vorteil zu entscheiden. Er hatte gehandelt, um sein Land vor einer Revolution zu bewahren, im vollen Bewusstsein dessen, dass es ihn das Leben kosten würde. Das Mindeste, was er verdiente, war, dass man die Wahrheit ans Licht brachte, um sein Tun nachträglich zu rechtfertigen.
»Ja«, gab ihr Charlotte Recht. »Wenn ich darf, würde ich gern als Oberinspektor Pitts Frau mitkommen.«
Juno wandte sich ihr zu. »Aber natürlich. Ich hätte Sie ohnehin darum gebeten.«
»Wem wollen Sie es sagen?«
»Ich denke, Charles Voisey. Er ist Richter am Berufungsgericht, hat den Fall mitentschieden und ist mit allen Einzelheiten vertraut. Ich kenne ihn ein wenig, von den anderen aber keinen. Ich will sehen, ob ich heute Abend zu ihm kann. Ich möchte das so schnell wie möglich erledigen … es – es fällt mir sehr schwer zu warten.«
»Das verstehe ich«, sagte Charlotte rasch. »Ich komme dann.«
»Ich werde um halb acht mit der Kutsche da sein, es sei denn, er kann uns nicht empfangen. Ich sage Ihnen noch Bescheid«, versprach Juno.
Charlotte erhob sich. »Ich werde bereit sein.«
Sie trafen kurz nach acht in Charles Voiseys Haus am Cavendish Square ein und wurden in ein prächtiges Gesellschaftszimmer geführt. Es war streng konservativ gehalten, Rot und sanftes Gold herrschten vor, dunkle, warme Töne. Exquisite arabische Messingarbeiten setzten dem Raum Glanzlichter auf: Tabletts, Krüge und Vasen, auf deren gravierten Oberflächen sich das Licht fing.
Voisey empfing die Besucherinnen höflich. Falls er auf den Grund ihres Kommens neugierig war, zeigte er das nicht. Andererseits
bemühte er sich auch nicht um eine Konversation im Plauderton. Als sie Platz genommen und die ihnen angebotenen Erfrischungen dankend abgelehnt hatten, wandte er sich fragend an Juno.
»Was kann ich für Sie tun, Mrs. Fetters?«
Sie hatte sich bereits dem Schlimmsten gestellt, indem sie sich eingestanden hatte, dass Martin nicht der Mensch gewesen war, den sie während all der Jahre ihrer Ehe geliebt hatte. Das einem anderen mitzuteilen war schwer, aber vielleicht sogar eine Erleichterung, wenn man es mit dem richtigen Gegenüber zu tun hatte.
Sie saß aufrecht und sah ihn an, während sie begann: »Wie ich am Telefon schon angedeutet habe, habe ich in Papieren meines Mannes, die von der Polizei nicht gefunden wurden, weil sie so glänzend versteckt waren, eine Entdeckung gemacht.«
Voisey wurde kaum merklich abweisend. »Ach ja? Ich hatte angenommen, man habe sehr gründlich gesucht.« Er warf einen raschen Blick auf Charlotte. Es kam ihr vor, als freue er sich
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