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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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das mit einer frommen Lüge bestreiten.
    »So sieht es aus«, sagte diese stattdessen und versuchte zu überlegen, auf wen sich der Hinweis beziehen konnte. »Sie haben Recht, es gehört zur Verschwörung für die Revolution. Ich weiß übrigens, wer dieser Journalist ist.«
    Juno schwieg. Ihre Hände zitterten, während sie umblätterte. Auf den nächsten Seiten fanden sich Zahlen darüber, wie viele Menschen bei den verschiedenen Revolutionen des Jahres 1848 auf dem europäischen Kontinent verletzt worden und umgekommen waren. Anhand ihrer hatte man geschätzt, wie hoch die Zahl der Opfer in London und anderen größeren Städten Englands voraussichtlich sein würde, wenn es dort zur Revolution käme. Niemand konnte missverstehen, was das zu bedeuten hatte.
    Juno war weiß wie ein Laken, ihre dunklen Augen lagen tief in ihren Höhlen.
    Auf die nächsten Seiten warfen die beiden Frauen nur einen flüchtigen Blick. Sie enthielten Pläne und Möglichkeiten für die Umverteilung des Wohlstandes sowie von Haus- und Grundbesitz jener, die selbiges ererbt und nicht durch eigene Bemühungen erworben hatten. Das Dokument umfasste mindestens ein Dutzend Seiten.
    Ganz zum Schluss fand sich der Entwurf einer Staatsverfassung. An der Spitze sollte ein Präsident stehen, der einem Senat verantwortlich war – ähnlich wie in Rom zur Zeit der Republik, vor dem Kaiserreich. Der noch nicht durchformulierte Entwurf bestand lediglich aus einer Reihe von Vorschlägen, doch konnte kein Zweifel daran bestehen, wer als Erster für das Amt des Präsidenten vorgesehen war. Er enthielt einen Hinweis auf mehrere bedeutende Idealisten der Vergangenheit, in erster Linie Mazzini, sowie auf Mario Corena, der zwar in Rom
gescheitert war, aber Großartiges geleistet hatte. Die Führung in England wollte der Meister selbst übernehmen.
    Charlotte brauchte nicht zu fragen, ob es sich um Martin Fetters’ Handschrift handelte; sie sah auf den ersten Blick, dass sie es nicht war. Es bestand nicht die geringste Ähnlichkeit. Fetters hatte kräftig und flüssig geschrieben, ein wenig unordentlich, als wäre seine Begeisterung seiner Hand davongeeilt. Diese Schrift hier war von pedantischer Exaktheit: die Buchstaben fast senkrecht, und kaum ein Größenunterschied zwischen Groß- und Kleinbuchstaben, keine Abstände zwischen den Sätzen.
    Sie hob den Blick zu Juno und versuchte sich vorzustellen, was sie selbst empfinden würde, wenn sie so etwas in Pitts Zimmer gefunden hätte. Aus dem Dokument sprachen neben glühender Leidenschaft und Idealismus auch Willkür und die Bereitschaft zur Gewalttätigkeit. Überdies ging es von völlig falschen Voraussetzungen aus. Nie und nimmer durfte ein Betrug wie der hier geplante, bei dem Wut und Lügen die Unruhe im Lande schüren sollten, Grundlage einer Reform sein. An keiner Stelle war die Rede davon, das Volk nach seinem Willen zu fragen oder allen Menschen offen zu sagen, ein wie hoher Einsatz nötig sein würde, um die geplante Reform durchzusetzen.
    Sie erkannte auf Junos Zügen Entsetzen, Verwirrung und einen Kummer, der alle Schmerzen der vergangenen Tage überschattete.
    »Ich habe mich geirrt«, flüsterte sie. »Ich habe ihn überhaupt nicht gekannt. Was da geplant wird, ist ungeheuerlich. Er – er hat seinen ganzen wahren Idealismus eingebüßt. Ich weiß, dass er überzeugt war, zum Besten des Volkes zu handeln. Er hat jede Form der Tyrannei verabscheut… aber er hat nie gefragt, ob die Leute eine Republik wollten oder bereit waren, dafür zu sterben! Er hat für sie entschieden! Das ist keine Freiheit, sondern eine andere Art der Tyrannei.«
    Charlotte konnte nichts dagegen sagen, und ihr fiel auch kein tröstendes Wort ein. Juno hatte Recht: Das war der Gipfel der Anmaßung, ein unüberbietbares Despotentum, ganz gleich, was für idealistische Gedanken dahinter stehen mochten.
    Juno sah in die Ferne; in ihren Augen standen Tränen. »Danke, dass Sie nichts Abgedroschenes gesagt haben«, brachte sie schließlich heraus.
    Charlotte traf die einzige Entscheidung, der sie sicher war. »Ich denke, wir sollten jetzt den Tee trinken. Mir kommt es vor, als hätte ich Papier gegessen!«
    Juno stimmte ihr mit einem halben Lächeln zu. Gemeinsam gingen sie nach unten, und binnen fünf Minuten kam Dora mit dem Teetablett. Eine Weile sagte keine der beiden Frauen etwas. Es schien nichts Sinnvolles zu geben, worüber man sprechen konnte. Schließlich stellte Juno ihre Tasse hin, stand auf und trat ans Fenster.

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