Die Verschwoerung von Whitechapel
dieser Unterhaltung folgten, die zu nichts führte. Einer von ihnen war Lord Randolph Churchill. Sie kannte ihn schon seit langem, wenn auch nur flüchtig, und da sie auch schon seinen Vater gekannt hatte, wusste sie, mit welcher Intelligenz und Hingabe er an seinen politischen Überzeugungen festhielt.
»Ein richtiger Mischmasch«, erläuterte Sissons. »Nicht nur mit Bezug auf die Herkunft, sondern auch, was den Glauben betrifft. Dort leben Katholiken, Juden und natürlich auch Iren. Viele Iren. Die Leute haben praktisch nichts gemeinsam, als dass sie Arbeit brauchen.«
»Ich verstehe.« Es kam dem Prinzen allmählich vor, als hätte er der Höflichkeit Genüge getan und könne darangehen, das Gespräch zu beenden, das ihm außerordentlich langweilig zu sein schien.
»Auf jeden Fall muss die Sache Gewinn abwerfen«, fuhr Sissons fort. Seine Stimme klang eindringlich, sein Gesicht war gerötet.
»Nun, ich denke, dass Ihnen das als Betreiber zweier Fabriken gelingt«, sagte der Prinz mit angenehmem Lächeln, als wolle er die Sache damit abschließen.
»Nein!«, stieß Sissons hervor und tat einen Schritt auf den Prinzen zu, während sich dieser einen Schritt von ihm entfernte. »Ich betreibe sogar drei Zuckersiedereien. Aber ich habe nicht gesagt, dass sie Gewinn abwerfen, sondern es meine Aufgabe ist, zu erreichen, dass sie das tun, weil sonst über tausend Menschen ihre Arbeit verlieren. Das würde zu unvorstellbaren
Unzuträglichkeiten führen.« Er sprach schneller. »Ich ahne nicht einmal, wo das enden würde. Nicht in jenem Teil der Stadt – die Leute können doch sonst nirgendwo hin.«
»Warum sollten sie fortgehen wollen?«, fragte der Prinz mit gekrauster Stirn.
Vespasia zuckte zusammen. Sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von der die Seele zerstörenden Armut bestimmter Teile Londons, insbesondere im Osten. Die elendesten Viertel von allen waren Spitalfields und Whitechapel.
»Nun, um woanders Arbeit zu finden«, sagte Sissons, der allmählich immer erregter sprach. Schweiß stand ihm auf der Stirn und der Oberlippe und glänzte im Lichtschein. »Ohne Arbeit müssen sie verhungern. Sie sind jetzt weiß Gott schon nahe genug daran.«
Der Prinz sagte nichts. Die Situation war ihm erkennbar peinlich. Das, worüber der Mann da sprach, war in dieser Umgebung, angesichts der Zurschaustellung von Luxus ein äußerst unpassendes Thema. Wie geschmacklos, Männer mit Champagnerkelchen in der Hand und mit Diamantschmuck behängte Frauen daran zu erinnern, dass wenige Kilometer von ihnen entfernt tausende nichts zu essen und für die Nacht kein Dach über dem Kopf hatten. Es verursachte ihnen Unbehagen.
»Ich muss unbedingt im Geschäft bleiben!« Sissons’ Stimme hob sich ein wenig und wurde so über dem Geräusch der übrigen Unterhaltungen und dem Rhythmus der fernen Musik deutlich hörbar. »Ich muss unbedingt alle Außenstände hereinbekommen … damit ich die Leute weiter bezahlen kann.«
Der Prinz sah verwirrt drein. »Selbstverständlich. Ja … das muss wohl sein. Sehr gewissenhaft von Ihnen.«
Sissons schluckte. »Alle … Sir.«
»Gewiss … Unbedingt.« Inzwischen wirkte der Prinz erkennbar unglücklich. Sein sehnlicher Wunsch, dieser widersinnigen Situation zu entfliehen, ließ sich mit Händen greifen.
Randolph Churchill nahm sich die Freiheit heraus, dazwischenzutreten. Das überraschte Vespasia nicht. Er und der Prinz kannten einander schon seit vielen Jahren, und ihre Beziehung hatte so manches Auf und Ab erlebt. Als sie einander
1876 in der Aylesford-Affäre hasserfüllt gegenübergestanden hatten, war Churchill vom Prinzen sogar auf Pistolen gefordert worden. Das Duell sollte in Paris stattfinden, weil es in England verboten war. Es war sechzehn Jahre her, dass der Prinz öffentlich erklärt hatte, er werde sich künftig weigern, das Haus von Menschen zu betreten, die Angehörige der Familie Churchill einluden. Als Ergebnis hatte nahezu die ganze Gesellschaft die Familie geschnitten.
Irgendwann aber war die Feindschaft zu Ende gewesen. Randolphs Gattin Jenny hatte den Prinzen so bezaubert, dass sie schließlich eine seiner zahlreichen Mätressen geworden war. Er machte Jenny nicht nur teure Geschenke, er ließ sich auch gern bei Abendgesellschaften im Haus der Churchills am Connaught Place sehen. Fortan leuchtete über Randolph die Sonne der königlichen Gunst. Er bekleidete nicht nur als Führer des Unterhauses und Schatzkanzler zwei der höchsten Ämter im Lande, er war dem
Weitere Kostenlose Bücher