Die Verschwoerung von Whitechapel
merkte, dass sie ihn sehr gut leiden konnte. Er war tapfer, hatte sonderbare Vorstellungen, stand unerschütterlich zu seinen Überzeugungen und war hinter dem oberflächlichen Äußeren von angenehmer Einzigartigkeit. Sie hatte schon immer etwas für Exzentriker übrig gehabt.
Mitternacht war schon vorüber. Gerade als Vespasia überlegte, ob sie nicht gehen sollte, hörte sie eine Stimme, die jede Vorstellung von Zeit aufhob und sie um ein volles halbes Jahrhundert nach Rom zurückversetzte, wo sie einen unvergesslichen Sommer durchlebt hatte. Es war 1848, das Jahr, in dem auf dem ganzen europäischen Festland Revolutionen tobten. In dieser gesetzlosen Zeit voller Hochgefühl waren Träume von Freiheit wie ein Feuerbrand über Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien dahingeflogen, doch nur allzu bald einer nach dem anderen unterdrückt worden. Das Militär hatte den Menschen das Rückgrat gebrochen, die vom Volk
errichteten Barrikaden gestürmt und die Reform unter seinen Stiefeln zertrampelt. In Rom waren das die Soldaten Kaiser Napoleons III. gewesen. Es dauerte nicht lange, bis allenthalben die Könige und der Papst ihre einstige Macht zurückgewonnen hatten.
Beinahe hätte sich Vespasia nicht umgewandt. Bei der Stimme, die sie da angesprochen hatte, konnte es sich nur um einen Widerhall handeln. Sicher spielte ihr die Erinnerung einen Streich. Vermutlich lag das an einer täuschend ähnlichen Klangfarbe irgendeines italienischen Diplomaten, der vielleicht aus der gleichen Gegend oder sogar derselben Stadt stammte wie er. Sie war überzeugt gewesen, ihn ebenso vergessen zu haben wie das ganze wilde Jahr voll Leidenschaft und Hoffnung, Mut und Qual, an dessen Ende der Verlust gestanden hatte.
Zwar war sie seither wieder in Italien gewesen, aber nie in Rom. Stets hatte sie das zu vermeiden gewusst, ohne den Grund dafür zu sagen. Dieser Teil ihres Lebens war vom übrigen abgesondert, es war eine Existenz, die nichts mit der Wirklichkeit ihrer Ehe, ihren Kindern oder London zu tun hatte. Nicht einmal der Nervenkitzel, den sie in jüngster Zeit mit dem außergewöhnlichen Polizeibeamten Thomas Pitt erlebt hatte, konnte daran etwas ändern. Wer hätte gedacht, dass die hochadlige Vespasia Cumming-Gould, die mit der Hälfte der europäischen Königshäuser versippt und verschwägert war, gemeinsame Sache mit dem Sohn eines Wildhüters machen würde, der bei der Polizei arbeitete? Ihr war bekannt, dass sich die Hälfte der Menschen, die sie kannte, von der Sorge darum lähmen ließen, was andere denken mochten, womit sie sich jegliche Leidenschaft und Lebensfreude vorenthielten, aber natürlich auch Qualen aus dem Wege gingen. Schließlich wandte sie sich entgegen ihrer ursprünglichen Absicht doch zu dem Mann um, der gerade das Wort an jemanden gerichtet hatte. Es war eine Art unwillkürliche Reaktion.
Wenige Schritte von ihr entfernt sah sie einen Mann etwa ihres Alters. Damals war er Mitte zwanzig gewesen, schlank, dunkel, geschmeidig wie ein Tänzer und mit einer Stimme, die sie noch heute in ihren Träumen hörte.
Jetzt waren seine Haare grau, er war ein wenig fülliger geworden, aber immer noch drahtig, und der Schwung seiner Brauen war ebenso unverändert wie sein Lächeln.
Als hätte er ihren Blick gespürt, wandte er sich einen Moment beiseite.
Er erkannte sie sofort, ohne eine Sekunde zu zögern.
Mit einem Mal empfand sie Angst. Konnte die Wirklichkeit der Erinnerung je standhalten? Hatte sie sich mehr eingeredet, als wirklich geschehen war? Bestand zwischen der Frau, die sie in jungen Jahren gewesen, und der, die sie jetzt war, auch nur eine annähernde Ähnlichkeit? Oder würde sich zeigen, dass Zeit und Erfahrung sie zu weise gemacht hatten, als dass sie den Traum jetzt noch sehen könnte? Wäre es nicht besser, den Mann in der Leidenschaft der Jugend zu sehen, wie er von der Sonne Roms beschienen, mit der Waffe in der Hand auf den Barrikaden gestanden hatte, bereit, für die Sache der Republik zu sterben?
Er kam auf sie zu.
Panik überflutete sie wie eine Welle, aber die Gewohnheit, die ein Leben lang geübte Selbstzucht und eine widersinnige Hoffnung hinderten sie, sich abzuwenden und einfach davonzugehen.
Er blieb vor ihr stehen.
Das Herz schlug ihr im Halse. Sie hatte oft in ihrem Leben geliebt, bisweilen mit Feuer, bisweilen mit Lachen, gewöhnlich voll Zärtlichkeit, aber niemanden so wie Mario Corena.
»Lady Vespasia«, redete er sie förmlich mit dem Titel an, auf
Weitere Kostenlose Bücher