Die Verschwoerung von Whitechapel
seinem üblichen Verhalten abgewichen.
Tellman biss in die Pastete und achtete darauf, dass nichts auslief.
Adinett war vermögend und hatte daher seinen Lebensunterhalt nicht verdienen müssen. Er konnte mit seiner Zeit tun und lassen, was er wollte. Soweit man wusste, hatte er regelmäßig verschiedene Klubs aufgesucht, vorwiegend solche, deren Mitglieder Forschungsreisen unternahmen oder gleich ihm Offiziere waren. Aber er war auch Mitglied der National Geographic Society und ähnlicher Vereinigungen gewesen. So sah nun einmal das Leben von Menschen aus, die ein Vermögen geerbt hatten und sich dem Müßiggang widmen konnten. Tellman verachtete das mit allem Zorn eines Mannes, der von klein auf mit ansehen musste, dass die meisten Menschen gezwungen waren, vom Morgengrauen bis zum späten Abend zu arbeiten, und trotzdem froren und nicht genug zu essen hatten.
Er kam an einem Zeitungsjungen vorüber.
»Zeitung, Sir?«, fragte dieser. »Mr. Gladstone hat die Arbeiterschaft im Land beleidigt, sagt Lord Salisbury. Manche sollen ’n Achtstundentag kriegen – vielleicht!« Er grinste breit. »Oder wie wär’s mit der neuen Nummer von Orgien und Untergang , alles über die Korruption im alten Rom? «, fügte er hoffnungsfroh hinzu.
Tellman kaufte ihm die Abendausgabe ab, nicht wegen der Nachrichten über die bevorstehenden Wahlen, sondern weil er sehen wollte, was man über die Anarchisten berichtete.
Während er den Schritt wieder beschleunigte, wandte er sich erneut seiner Aufgabe zu. Es würde ihn zutiefst befriedigen, wenn er nicht nur herausbekäme, warum Adinett den Mord begangen hatte, sondern auch die Beweise dafür fände, damit jeder in London das erfuhr, ganz gleich, ob sie das wissen wollten oder nicht.
Er hatte Übung darin, Menschen zu beschatten, war aber bisher immer als Polizeibeamter aufgetreten. Bei dieser Aufgabe unauffällig vorzugehen war etwas völlig Neues für ihn. Dazu musste er vermutlich den einen oder anderen bitten, einen Dienst zu erwidern, den er diesen Menschen früher getan hatte, und in manchen Fällen sogar im Voraus seinerseits um diesen oder jenen Gefallen bitten.
Er beschloss, mit dem anzufangen, was am nächsten lag, nämlich bei den Droschkenkutschern. Jeder von ihnen fuhr gewöhnlich in bestimmten Stadtbezirken, und höchstwahrscheinlich hatte Adinett, der selbst keine Kutsche besaß, Droschken benutzt. In dem Fall dürfte er mehrfach mit demselben Kutscher gefahren sein.
Sollte er allerdings den Pferde-Omnibus oder gar die Untergrundbahn bevorzugt haben, gäbe es praktisch keine Möglichkeit, etwas darüber zu erfahren, wo er sich aufgehalten hatte.
Die beiden ersten Droschkenkutscher, auf die Tellman stieß, konnten ihm nichts sagen, und der dritte verwies ihn an andere.
Es war halb zehn. Er war müde, seine Füße schmerzten, und er ärgerte sich, dass er einem törichten Impuls nachgegeben hatte. Als er dem siebten Droschkenkutscher gegenüberstand, einem kleinen grauhaarigen Mann mit einem trockenen Husten, musste er unwillkürlich an seinen Vater denken, der den
ganzen Tag als Träger auf dem Fischmarkt von Billingsgate gearbeitet und anschließend die halbe Nacht bei jedem Wetter eine Droschke gefahren hatte, um seine Familie durchzubringen. Vielleicht war es diese Erinnerung, die ihn veranlasste, den Mann freundlich anzusprechen.
»Haben Sie ein bisschen Zeit?«, fragte er.
»Wo wollen Sie denn hin?«, erkundigte sich der Mann.
»Eigentlich nirgends«, gab Tellman zurück. »Ich brauche einige Angaben, um einem Freund zu helfen, der in Schwierigkeiten ist. Übrigens hab ich Hunger.« Das stimmte zwar nicht, diente ihm aber als taktvoller Vorwand, den Mann zu einem kleinen Imbiss einzuladen. »Haben Sie Zeit, mit mir eine heiße Pastete zu essen und ein Glas Bier zu trinken?«
»Heute war ’n schlechter Tag. Ich kann mir keine Pasteten leisten«, teilte ihm der Kutscher mit.
»Ich zahle«, gab ihm Tellman zu verstehen. Zwar hatte er wenig Hoffnung, etwas Nützliches zu erfahren, aber er sah nach wie vor das müde Gesicht seines Vaters vor seinem inneren Auge. Es war, als könne er eine Schuld gegenüber der Vergangenheit abtragen.
Der Kutscher zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen.« Er ließ Pferd und Droschke stehen, folgte Tellman zum nächsten Straßenhändler und ließ sich gern zur Pastete einladen. »Was wollen Sie wissen?«
»Steigen oft Leute in der Marchmont Street bei Ihnen ein?«
»Ja, warum?«
Tellman hatte ein Foto Adinetts mitgebracht,
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