Die Verschwoerung von Whitechapel
mir klar.« Er stand, tief in Gedanken versunken, mitten auf dem Gehweg, während Fahrzeuge aller Art durch die Bow Street fuhren und Fußgänger in den Rinnstein treten mussten, um an ihm und Gracie vorbeizukommen. »Wir haben damals getan, was wir konnten, um hinter das Motiv zu kommen. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf einen Streit welcher Art auch immer.« Er schüttelte den Kopf. »Es gab keine Differenzen wegen Geld oder Frauen, keine Rivalität im Geschäftsleben, Sport oder dergleichen. Sogar politisch waren die beiden einer Meinung.«
»Na, da ha’m wir eben nich gründlich genug gesucht!« Gracie stand unerschütterlich da. »Was würde Mr. Pitt tun, wenn er hier wär?«
»Was er sowieso getan hat«, gab Tellman zur Antwort. »Er hat all ihren Gemeinsamkeiten nachgespürt, um zu sehen, worüber sie sich möglicherweise hätten streiten können. Wir haben mit ihren sämtlichen Freunden und Bekannten gesprochen und keinen ausgelassen, das Haus durchsucht, alle Papiere durchgesehen. Da war nichts.«
Den Blick erhoben, stand sie im hellen Sonnenschein da und kaute auf ihrer Lippe. Sie sah aus wie ein müdes, zorniges Kind, das jeden Augenblick in Tränen ausbrechen kann. Sie war immer noch viel zu dürr und musste die meisten ihrer Kleider kürzen, um nicht über ihren Saum zu stolpern.
»Man bringt niemand einfach so um, für nix und wieder nix«, wiederholte sie eigensinnig. »Er hat das von einem Augenblick auf ’n andern gemacht, also muss unmittelbar davor was gewesen sein. Sie müssen rauskriegen, was in der Woche vor dem Mord passiert is, an jedem einzelnen Tag. Da is bestimmt was!« Sie brachte es nicht über sich, ›bitte‹ zu sagen.
Tellman zögerte, nicht aus Ungefälligkeit, sondern einfach, weil ihm nichts Sinnvolles einfiel, was er hätte tun können.
Sie sah ihn unverwandt an. Er musste ihr unbedingt etwas antworten, und mit einer Weigerung wäre sie auf keinen Fall zufrieden. Sie begriff die Schwierigkeiten nicht. Sie hatte keine Vorstellung von dem, was Pitt und er bereits unternommen hatten. Sie sah nur die Treue zu ihrem Herrn, ihr ging es darum, für die Menschen zu kämpfen, die sie liebte, die zu ihrem Leben gehörten.
Er wollte nicht wirklich zum Leben anderer Menschen gehören und war nicht bereit, sich einzugestehen, dass ihm an Pitt lag. Natürlich war Ungerechtigkeit unerträglich, aber die Welt war voll davon. In manchen Fällen konnte man dagegen ankämpfen, in anderen nicht. Es war Torheit, seine Zeit und seine Kraft mit Kämpfen zu vergeuden, die sich ohnehin nicht gewinnen ließen.
Gracie wartete. Sie war auf keinen Fall bereit zu glauben, dass er sich ihrer Bitte verschließen würde.
Er öffnete den Mund, um zu sagen, wie sinnlos das Ganze sei und dass sie das Ganze nicht verstehen könne, sagte aber stattdessen, was sie hören wollte.
»Ich werde feststellen, was Adinett in den letzten Tagen vor der Tat getan hat.« Es war einfach lachhaft! Was für eine Art Polizeibeamter war er eigentlich, dass ihn so eine halbe Portion von Hausmädchen dazu bringen konnte, sich lächerlich zu machen? »Ich weiß aber nicht, wann ich dazu komme!«, fuhr er trotzig fort. »Erst, wenn ich Zeit habe! Wenn mich Wetron auf die Straße setzt, ist keinem geholfen.«
»Natürlich nicht«, sagte sie mit einem Nicken. Dann bedachte sie ihn mit einem so strahlenden Lächeln, dass sein Herz schneller schlug. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg,
und zugleich verabscheute er sich wegen seiner Weichherzigkeit.
»Ich komme und sag Bescheid, wenn ich etwas gefunden habe«, knurrte er. »Und jetzt gehen Sie und stören mich nicht weiter bei der Arbeit!« Ohne sie noch einmal anzusehen, machte er kehrt, ging die Stufen empor und verschwand durch die Tür in der Wache.
Gracie holte tief Luft. Von neuer Hoffnung erfüllt, fuhr sie mit dem Pferde-Omnibus zurück in die Keppel Street.
Nach Feierabend kaufte Tellman bei einem Straßenhändler wie fast täglich eine warme Pastete und aß sie auf seinem Weg durch die Endell Street. Er musste sorgfältig darauf achten, keine Spuren zu hinterlassen, nicht nur um seiner Sicherheit willen, sondern aus dem einfachen Grund, dass er nicht weitermachen konnte, wenn man dahinter kam, dass er auf eigene Faust Nachforschungen betrieb.
Wer könnte wissen, was Adinett getan hatte, mit wem er zusammengetroffen war, wo er sich in der Zeit unmittelbar vor Fetters’ Tod aufgehalten hatte? Adinett hatte geschworen, er sei in keiner Weise von
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