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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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heruntergekommenen und halb zerfallenen Gebäude, die der Rauch tausender von Kaminen mit einer schwarzen Schmutzschicht bedeckt hatte, notdürftig instand gesetzte Fenster zu
beiden Seiten der Straße, in deren Pflaster zahlreiche Steine fehlten, Gossen, die von Unrat überquollen. Ein Geruch nach Fäulnis und Abwässern lag in der Luft. Die Prügelei ging weiter. Sie hatte nichts mit einem plötzlichen Wutausbruch zu tun, sondern war das Ergebnis von dumpfem Zorn und Hass, die sich im Laufe von Jahren angestaut hatten und sich jetzt Luft machten. Die Polizei würde mit ihren Knüppeln Ruhe schaffen … bis zum nächsten Mal.
    Pitt wandte sich ab und ging mit gesenktem Kopf davon, bevor er jemandem auffiel. Er würde sich merken, was er gesehen und gehört hatte. Er hatte den Hut in die Stirn gezogen und die Hände in die Taschen gesteckt. An der ersten Ecke bog er ab, obwohl ihn das von seinem Ziel, der Heneagle Street, wegführte. Von Anfang an hatte er die allgemeine Unruhe gespürt, die Unbeherrschtheit in den Stimmen der Menschen, hatte mitbekommen, wie rasch sie Anstoß nahmen. Jetzt war er Zeuge geworden, wie dicht unter der Oberfläche die Wut lag, jederzeit bereit auszubrechen. Als Auslöser genügte eine Kränkung oder eine negative Äußerung.
    Diesmal war die Polizei schnell gekommen und hatte eine gewisse Ordnung wiederhergestellt, doch war damit nichts erreicht. Verblüfft hatte Pitt gesehen, wie sich die gegen die Katholiken gerichtete Stimmung binnen weniger Sekunden entladen hatte. Sie musste schon lange unter der Oberfläche gebrodelt haben. Während er jetzt an kleinen Läden vorüberging, in deren schmalen Schaufenstern Waren aufgestapelt waren, fielen ihm andere Äußerungen ein, die er gehört hatte, Schimpfwörter gegen die ›Papisten‹, die nicht in gutmütigem Spott gefallen waren, sondern voll Gehässigkeit, und diese hatten nicht gezögert, es den sie Schmähenden mit Zins und Zinseszins heimzuzahlen.
    Ihm fielen auch Gesprächsfetzen ein, denen er entnommen hatte, dass die Religionszugehörigkeit der Grund war, wenn bestimmte Geschäftsabschlüsse nicht zustande kamen, bestimmte Menschen nicht eingeladen wurden, ja, dass man Menschen in Schwierigkeiten sogar jede Hilfe versagte, weil sie sich zu einem anderen Glauben bekannten.
    Die antisemitische Hetze überraschte ihn weniger, denn diesen
Hass und Groll, diese Herabsetzungen und Vorwürfe kannte er schon von früher.
    Er betrat die erste Gaststätte, die an seinem Wege lag, und setzte sich mit einem Krug Apfelwein an einen Tisch in der Nähe der Theke.
    Zehn Minuten später kam ein schmächtiger junger Mann herein.
    »He, Charlie!«, sagte der Schankkellner neugierig. »Was hast du denn angestellt?« Damit wies er auf die Hand des Mannes, die mit einem blutgetränkten Fetzen verbunden war.
    »Mich hat ’ne verdammte Ratte gebissen«, gab dieser wütend zurück. »Ich krieg ’ne Halbe. Wenn ich halb so viel verdienen würde, wie mir für meine Arbeit eigentlich zusteht, würd ich sagen, bring mir auch ’nen Schluck Whisky! Aber welcher arme Sack hier in Spitalfields kriegt schon, was er wert ist?«
    »Du hast Arbeit. Du hast es besser wie so mancher andere«, sagte ein blasser Mann verbittert und hob den Blick von seinem Bierglas. »Du weißt ja nich, wie gut’s dir geht.«
    Wütend wandte sich Charlie zu ihm um. Sein Gesicht rötete sich. »Nennst du das gut gehen, wenn mich ’n habgieriger Chef Tag und Nacht für ’nen Hungerlohn schuften lässt und sich mit dem mästet, was er an uns armen Säcken verdient?« Er sog scharf die Luft ein. »Und Feiglinge wie du weigern sich, mit uns für Gerechtigkeit zu kämpfen. So kommen wir nie auf ’nen grünen Zweig. Leute wie dich muss nur einer schief ansehen – schon macht ihr die Augen zu und stellt euch tot!«
    »Und Leute wie du sorgen dafür, dass wir eines Tages auf der Straße liegen!«, blaffte der andere und hielt sich an seinem Glas fest, als könnte ihm das Sicherheit bieten. Der in seinen Augen glühende Zorn vermochte nicht die Beklemmung zu überdecken, die ihn wohl Tag und Nacht beherrschte: Angst vor Hunger, Kälte und Verachtung, Angst vor Kränkung, vor allem aber die Sorge, alles zu verlieren.
    Ein blonder Mann, der Pitts Anwesenheit offensichtlich nicht als bedrohlich ansah, mischte sich ein. »Was würdest du denn machen, Charlie, wenn alle bei euch mitmachen würden?«, fragte er herausfordernd.
    Charlie sah ihn an, überlegte sorgfältig mit nach wie vor wütend

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