Die Verschwoerung von Whitechapel
geohrfeigt. »Das war mir nicht bekannt.«
»Jetzt wissen Sie’s! Und was wollen wir dagegen tun?« Sie sah ihn flehend an. Es fiel ihr ausgesprochen schwer, ihn um einen Gefallen zu bitten, denn er sträubte sich nicht nur zu zeigen, was er für sie empfand, es gab auch zahlreiche Unterschiede zwischen ihnen. Dennoch hatte sie keinen Augenblick gezögert, ihn aufzusuchen. Sie sah ihren natürlichen Verbündeten in ihm. Mit einem Mal fragte sie sich, wieso es ihr so leicht gewesen war, ihn aufzusuchen, doch sie zweifelte nicht daran, dass sie damit richtig gehandelt hatte.
Sofern ihm das ›wir‹ aufgefallen war und er sich fragte, wieso sie sich bei diesem Vorgehen mit einbezog, ließ sich das auf seinem Gesicht nicht ablesen. Er sah zutiefst unglücklich drein. Nach einem Blick über die Schulter zu dem Kollegen am Schreibtisch, der neugierig herüberstarrte, fasste er Gracie mit den Worten ›Wir wollen rausgehen‹ am Arm und zog sie geradezu durch die Tür und die Stufen hinab. Auf dem Gehweg würden höchstens uninteressierte Passanten hören, was sie zu bereden hatten.
»Ich weiß nicht, was wir tun könnten! «, wiederholte er. »Der Innere Kreis steckt dahinter! Für den Fall, dass Sie noch nichts von den Leuten gehört haben, will ich es Ihnen sagen: Es handelt sich um eine Geheimorganisation, bei der eine Hand die andere wäscht. Sie besteht aus lauter mächtigen Männern in hoher Position, die sich gegenseitig decken – soweit das möglich ist, sogar gegen die Justiz. Sie hätten auch Adinett vor dem Galgen bewahrt, wenn ihnen nicht Mr. Pitt einen Strich durch
die Rechnung gemacht hätte, und das verzeihen sie ihm nie. Es ist nicht das erste Mal, dass er sie verärgert hat.«
»Un wer is das?« Gracie wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr diese Vorstellung sie ängstigte. Jemand, der so viel Macht hatte, dass er Pitt auf diese Weise außer Gefecht setzen konnte, musste mit dem Teufel im Bunde stehen.
»Hören Sie mir eigentlich nicht zu? Das weiß niemand! Das ist es ja gerade! «, sagte Tellman verzweifelt. »Jeder, der hier im Lande über Macht verfügt, könnte es sein.«
Sie merkte, dass sie erschauerte. »Wolln Se damit etwa sagen, dass es vielleicht sogar der Richter selber sein könnte?«
»Genau das! Diesmal allerdings war er es nicht, sonst hätte er eine Möglichkeit gefunden, Adinett herauszuhauen.«
Sie straffte sich. »Trotzdem, wir müssen was tun. Wir können auf keinen Fall zulassen, dass er irgendwo in ’nem Dreckloch sitzt und nie wieder nach Hause darf. Soll das heißen, dass dieser Adinett den Mann nich umgebracht hat – wie hieß der noch mal?«
»Fetters. Doch, umgebracht hat er ihn. Wir wissen nur nicht, warum.«
»Dann müssen wir das eben rauskriegen, und zwar so schnell wie möglich«, sagte sie. »Sie sind Kriminalpolizist. Wo fangen wir an?«
Gemischte Gefühle traten auf Tellmans Gesicht: Zögern, Wut, Stolz, Sanftheit und Angst.
Beschämt begriff Gracie, was sie da von ihm erwartete. Sollten ihre Bemühungen fehlschlagen, hatte sie im Vergleich zu ihm kaum etwas zu verlieren. Nachdem ihn der neue Oberinspektor angewiesen hatte, nicht mehr an Pitt zu denken und der Sache nicht weiter nachzugehen, würde Tellman hingegen in einem solchen Fall seine Anstellung verlieren, weil er gegen die Anweisung gehandelt hatte. Sie wusste, wie mühselig er sich in diese Position emporgearbeitet hatte. Er hatte von niemandem Protektion erwartet und auch keine bekommen. Er besaß keine Angehörigen und nur wenige Freunde. Er war stolz und einsam, ein Mann, der sich vom Leben nicht viel erhoffte, seinen Zorn über Ungerechtigkeiten beherrschte und mit Recht stolz auf seinen Gerechtigkeitssinn war.
Pitts Beförderung in die Stelle eines Vorgesetzten hatte ihn schwer gewurmt. Als Sohn eines Wildhüters war Pitt nicht besser als Tellman und hunderte von Kollegen in der Polizei; er gehörte nicht den gehobenen Kreisen an. Dennoch war im Laufe ihrer Zusammenarbeit zwischen ihnen eine Loyalität gewachsen, über die sie keine Worte verloren, und sie zu verraten, hätte gegen Tellmans Gefühl für Anstand verstoßen. In einem solchen Fall würde er sich selbst nicht mehr im Spiegel ansehen können, das wusste Gracie.
»Wo fangen wir an?«, fragte sie noch einmal. »Wenn der Mann das gemacht hat, hatte er auch ’nen Grund dafür. Niemand is so blöd, dass er hergeht und einfach jemand umbringt, außer er steckt in ’ner Sackgasse, aus der er sonst nich rauskann.«
»Das ist
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