Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
mitteilen müssen, dass er seinen Arbeitsplatz verloren hatte, seine Sorgen im Alkohol. Vermutlich vertrank er das Wenige, das ihm noch blieb, die Miete für die nächste Woche, das Essen für den nächsten Tag. Graue Hoffnungslosigkeit lag auf seinem Gesicht.
    Ein junger Bursche, ein gewisser Joe, berichtete einem anderen namens Percy, wie er genug zu sparen gedachte, um einen eigenen Karren zu erwerben, um Besen weiter im Westen der Stadt zu verkaufen, wo es sicherer sei und er mehr verdienen könne. Eines Tages werde er fortziehen und woanders eine Unterkunft finden, vielleicht in Kentish Town, wenn nicht gar in Pinner.
    Pitt erhob sich, um das Lokal zu verlassen. Mehr würde er kaum erfahren, und bestimmt würde nichts dabei sein, was Narraway nicht ohnehin wusste. Im Londoner Osten herrschten Elend und hilflose Wut, der geringste Anlass genügte, um einen Aufruhr losbrechen zu lassen. Man würde ihn mit Gewalt niederschlagen, und dabei würden hunderte ums Leben kommen. Danach würde die Wut unter der Oberfläche weiterglimmen bis zum nächsten Mal.
    Die Zeitungen würden den einen oder anderen Bericht bringen, Politiker ihr Bedauern äußern und sich dann wieder an die ernsthafte Aufgabe machen, dafür zu sorgen, dass alles möglichst blieb, wie es war.
    Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stapfte Pitt zurück zur Heneagle Street.
    Zumindest auf den ersten Blick schienen die Äußerungen über die Zuckersiederei mit dem Übrigen, was gesagt worden war, nichts zu tun zu haben. Doch waren sie mit solcher Bitterkeit und solchem Nachdruck hervorgestoßen worden, dass er noch Tage später daran denken musste. Aus Gesprächsfetzen, die er an verschiedenen Orten, an die ihn seine Arbeit führte, aufgeschnappt
hatte, wusste er, wie viele Menschen auf die eine oder andere Weise von den drei Zuckersiedereien in Spitalfields abhingen. Das Geld, das sie dort verdienten, wurde in den Läden, den Schänken und auf den Straßen des Viertels ausgegeben.
    Steckte hinter diesen Äußerungen mehr als die bloße Bitterkeit über diese Art von Abhängigkeit und die Angst, man könne ihnen die einzige Einkommensquelle nehmen? Oder war da noch etwas anderes? War der Hinweis, dass der Tag der Abrechnung kommen würde, nichts als Maulheldentum und Empörung? Gründete er sich womöglich auf Tatsachen?
    Pitt musste an Narraways Worte denken, man habe es nicht nur mit dem üblichen Groll zu tun, sondern sehe sich einer zunehmenden Gefahr gegenüber. Die Umstände hatten sich geändert, die Bevölkerung war gemischter als früher, und das hatte zu einer explosiveren Atmosphäre geführt.
    Aber was hätte er Narraway sagen können? Dass er mit seinen Befürchtungen Recht hatte? In dem Fall hieß die Lösung Reform und nicht Polizeieinsatz. Die Grundlagen zu ihrer Zerstörung hatte die Gesellschaft selbst gelegt – die Anarchisten legten lediglich das Feuer an die Lunte.
    Vielleicht, überlegte Pitt, könnte es nützlich sein, sich die Zuckersiederei in der Brick Lane etwas genauer anzusehen. Es mochte lohnen, etwas mehr über sie in Erfahrung zu bringen, die Stimmung der Männer zu erkunden, die dort arbeiteten.
    Welche bessere Möglichkeit dazu gäbe es, als so zu tun, als suche er selbst dort eine Anstellung? Zwar verstand er nichts von der Zuckerfabrikation, aber vielleicht gab es eine einfache Aufgabe, die er erledigen konnte.
    Früh am nächsten Morgen suchte er das sechsstöckige Gebäude auf, von dessen quadratischen Fenstern aus man einen Blick über ganz London hatte. Der Geruch nach Zuckerrohrsirup lag in der Luft. Es roch, als faulten Tonnen um Tonnen von Kartoffeln.
    Pitt konnte ohne weiteres in den Hof eintreten. Riesige Fässer waren dort aufgestapelt, und Fuhrwerke, die gerade vom Hafen heraufgekommen waren, wurden entladen. Männer schleppten und hoben, knarrend drehten sich Kräne.
    Mit den Worten: »He, was willst du hier?«, stellte sich ihm
ein vierschrötiger Mann in den Weg. Er trug eine verschossene braune Hose und eine speckige Lederweste.
    »Ich heiße Thomas Pitt und suche Arbeit.« Das entsprach fast der Wahrheit.
    »Ach ja? Was kannst du denn?« Er musterte Pitt abschätzig von Kopf bis Fuß. »Du bis nich von hier.« Es klang wie eine Beschuldigung. »Wir ha’m übrigens genug Leute«, schloss er.
    Pitt ließ den Blick über die hohen Mauern des Gebäudes gleiten, den gepflasterten Hof, die riesigen Tore im Erdgeschoss, die weit offen standen und durch die unablässig Männer hineingingen und

Weitere Kostenlose Bücher