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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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verzogenem Gesicht. »Dann würde sich hier manches ändern, Wally«, gab er zurück. »Jeder Arbeiter würde kriegen, was ihm zusteht, und nich bloß, was ihm irgend’n altes Schwein nur deshalb lässt, weil ihm ’n verhungerter Arbeiter gar nix nützen würde!«
    Wally hustete in sein Bierglas. »Träum weiter«, sagte er gelangweilt. Es war klar, dass er solche leeren Worte nur allzu oft gehört hatte.
    Charlie setzte seinen leeren Zinnkrug so fest auf, dass er eine Einkerbung im Holz der Theke hinterließ. »Ach ja?«, sagte er streitlustig. »Wenn wir hier mehr richtige Männer hätten und nich nur ’nen Haufen Waschlappen, wie all die Katholen und Juden, die hier rumkriechen, könnten wir für das kämpfen, was uns zusteht, so wie’s die Franzmänner in Paris gemacht ha’m! Schneid ’n paar von den feinen Pinkeln die Kehle durch, dann wirst du seh’n, wie schnell die sich das anders überlegen.«
    Ein dunkelhaariger Mann sagte kopfschüttelnd: »So was solltest du nich sagen. Damit machst du es nur schlimmer. Die Wände haben Ohren.«
    »Schlimmer!«, brach es aus Charlie heraus. »Schlimmer wie das hier? Wie woll’n die uns denn alle einbuchten, wenn wir uns einig sind?« Seine Stimme hob sich. Wut und Enttäuschung lagen in seinen Worten. »Eine Hand voll Nichtstuer im West End, die den Hals nich voll kriegen können, trampeln auf hunderten und tausenden von uns rum und fressen sich auf unsere Kosten die Wampe so voll, dass sie kaum die Hose zukriegen. Und die verdammten Greifer sind auf ihrer Seite«, fügte er hinzu. »Sonst hätten die doch den Massenmörder von Whitechapel längst gekascht, der vor ’n paar Jahren die armen Weiber umgebracht hat. Unter Garantie ist das einer von denen!« Herausfordernd sah er sich um, ob jemand zu widersprechen wagte.
    Mit einem Mal herrschte Stille im Raum. Kälte schien von den Wänden herabzukriechen. Pitt merkte, dass die Männer am Nebentisch nicht mehr miteinander sprachen. Noch jetzt, fast vier Jahre später, wagte niemand etwas über den Mörder von Whitechapel zu sagen. Niemand riss je Witze über ihn, und
in den Varietés gab es weder Lieder noch Anspielungen zu diesem Thema.
    »So was solltest du nich sagen!«, mahnte ein grauhaariger Mann mit rauer Stimme. Sein Gesicht war kalkweiß.
    »Ich sag, was ich will«, gab Charlie zurück. Das Blut war ihm in die Wangen gestiegen.
    Jemand lachte auf und brach mittendrin ab.
    Ein Mann mit hängenden Schultern erhob sich und hielt sein Glas hoch. »Ich trink auf heute!«, sagte er und grinste breit. »Denn morgen kannst du schon tot sein.« Dann leerte er sein Glas mit einem Zug.
    »Halt’s Maul, Dummkopf!«, zischte ihm sein Nachbar aufgebracht zu. Er hatte die Hand auf dem Tisch zur Faust geballt.
    Der andere ließ sich widerwillig auf seinen Stuhl sinken. Sein Grinsen verschwand. »Ich sag nix«, knurrte er. »Unser Tag kommt schon noch. Und zwar bald.«
    »Dann wollen wir sehen, wie viel Zucker die fressen können!«, stieß der andere zwischen den Zähnen hervor.
    »Sag noch einmal ›Zucker‹, und ich schlag dir die Zähne ein«, drohte der Erste aufgebracht. Seine Stimme klang, als ob er völlig nüchtern wäre. »Ich üb schon mal an dir, was all die Ausländer kriegen, die unsere Stadt vergiften und sich nehmen, was von Rechts wegen uns gehört.«
    Diesmal gab es keine Antwort.
    Pitt war alles an dieser Gaststätte verhasst, der Geruch, die plötzliche Wut, die in der Luft lag, die niedergeschlagene Stimmung, das Licht der Gasbeleuchtung, das sich in den zerbeulten Zinnkrügen spiegelte, der abgestandene Geruch des Sägemehls auf dem Fussboden, aber es war seine Aufgabe, zuzuhören. Er sank noch tiefer in sich zusammen und nahm einen Schluck von seinem Apfelwein.
    Eine halbe Stunde später kamen zwei unsaubere Straßenmädchen auf der Suche nach Kundschaft herein. Sie sahen erschöpft aus, waren aber trotzdem aufdringlich, und mit einem Mal empörte sich Pitt ebenso sehr wie Charlie über die Armut und die Verzweiflung, die Frauen dazu trieb, durch die Straßen und Gaststätten zu ziehen und sich Fremden anzubieten. Diese Art des Geldverdienens war für die verkommenen
Frauen obendrein häufig nicht ungefährlich, doch ging es schnell, war leichter als die Arbeit in einer der ausbeuterischen Fabriken und – zumindest kurzfristig gesehen – deutlich einträglicher.
    Grelles Gelächter hallte im Raum.
    Am Nebentisch ertränkte ein Mann, der nicht nach Hause gehen wollte, denn er hätte seiner Frau

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