Die Verschwoerung von Whitechapel
wegsehen.« Sauls Gesicht war ernst, die Eindringlichkeit seines Rats war unüberhörbar.
»Bombenwerfer gehen jeden an«, sagte Pitt ruhig. Im selben Augenblick fürchtete er, zu weit gegangen zu sein.
Saul war verblüfft. »Wer spricht von Bombenwerfern! Ich meine Herren aus dem West End, die nachts in großen schwarzen Kutschen durch Spitalfields fahren und Dinge tun, vor denen der Teufel Reißaus nehmen würde.« Seine Stimme zitterte. »Wer seine Arbeit tut und seine Nase nur in die eigenen Angelegenheiten steckt, dem passiert nichts. Falls die Polizei Sie fragen sollte, wissen Sie von nichts. Sie haben nichts gehört und nichts gesehen. Noch besser ist, Sie waren gar nicht da!«
Pitt ging der Sache nicht weiter nach. Am Abend, es war gegen Ende der Mahlzeit, kam ein Bekannter Isaaks blutend und mit zerrissenen Kleidern an die Tür.
»Samuel, was ist passiert?«, fragte Lea bestürzt und sprang von ihrem Stuhl am Esstisch auf, als Isaak den Mann hereinführte. »Man könnte glauben, dass dich ein Fuhrwerk überfahren
hat.« Sie sah ihn besorgt an und überlegte, was sie für ihn tun könnte.
»Ich hatte Ärger mit ein paar Männern von hier«, sagte Samuel und betupfte sich mit einem blutbefleckten Taschentuch die Lippen. Als er zu lächeln versuchte, zuckte er zusammen.
»Lass mich mal sehen«, sagte Lea. »Isaak, hol mir Wasser und Salbe.«
»Hat man dich ausgeraubt?«, fragte Isaak, ohne ihrer Aufforderung zu folgen.
Samuel zuckte die Achseln. »Ich lebe. Es könnte schlimmer sein.«
»Wie viel?«, fragte Isaak.
»Darauf kommt es jetzt nicht an«, wies Lea ihn zurecht. »Darüber reden wir später. Hol jetzt Wasser und Salbe. Der Mann hat Schmerzen, und sein ganzes Hemd ist voll Blut. Weißt du, wie schwer es ist, das aus gutem Stoff herauszubekommen?«
Pitt wusste, wo die Pumpe und die Wasserkanne war. Er ging zur Hintertür hinaus und kehrte bald darauf mit der Kanne voll Wasser zurück. Er hatte keine Vorstellung, ob es sauber war.
Als er zurückkam, hatten Lea und Isaak die Köpfe zusammengesteckt und sprachen leise miteinander. Samuel hatte sich mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl zurückgelehnt. Die Unterhaltung brach ab, als Pitt den Raum betrat.
»Ah, gut, gut«, sagte Isaak rasch und nahm die Kanne. »Vielen Dank.« Er stellte sie hin, goss eine kleine Menge in einen sauberen Topf und setzte ihn aufs Feuer. Lea hatte die Salbe bereits zur Hand.
»Es ist zu viel«, sagte sie und nahm offenbar den Gesprächsfaden an der Stelle auf, an der ihn Pitts Eintreten unterbrochen hatte. Es schien ihr nichts auszumachen, dass er noch im Raum war. Ihre Finger umklammerten den Salbentopf, während sie leise sagte: »Wenn du diesmal so viel gibst, was ist dann beim nächsten Mal? Und es gibt ein nächstes Mal, das ist sicher.«
»Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist«, sagte Isaak fest. »Gott wird geben.«
Lea stieß einen Laut der Ungeduld aus. »Er hat dir bereits ein
Gehirn gegeben! Benutze es. Es wird immer schlimmer, das weißt du ebenso gut wie jeder andere«, sagte sie mit Nachdruck. »Die Katholiken und Protestanten gehen sich gegenseitig an die Gurgel, überall wimmelt es von Bombenwerfern, einer ist verrückter als der andere, und jetzt heißt es schon, sie wollen die Zuckerfabrik in die Luft jagen …« Lea hatte Pitt, der an der Kommode lehnte, den Rücken zugekehrt.
»Ach was, kein Mensch will die Zuckerfabrik in die Luft jagen!«, widersprach Isaak mit eindringlicher Stimme und warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Ach! Und woher willst du das wissen?«, fragte sie mit gehobenen Brauen.
»Warum sollten sie?«, gab er mit ruhiger Stimme zurück.
»Brauchen die etwa einen Grund?«, fragte sie verblüfft. Sie hob die Schultern. »Es sind Anarchisten. Sie hassen jeden.«
»Uns geht das nichts an«, erklärte er. »Wir kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten.«
»Wenn die Zuckerfabrik in die Luft gejagt wird, geht das jeden an!«, gab sie zurück.
»Genug, Lea«, sagte er in einem Ton, der anzeigte, dass er das Gespräch beenden wollte. Es klang wie ein Befehl. »Kümmere dich um Samuel. Ich geb ihm etwas Geld, damit er nicht mittellos dasteht. Die anderen werden auch helfen. Jeder tut, was er zu tun hat.«
Sie sah ihn eine Weile an, als wollte sie weitersprechen, doch etwas in seinem Gesicht brachte sie davon ab.
Das Wasser begann zu sieden, und Pitt nahm es vom Herd, damit sich Lea um Samuels Verletzungen kümmern konnte.
Eine Stunde später bot er in dem Raum,
Weitere Kostenlose Bücher