Die Verschwoerung von Whitechapel
allen Grund zur Hoffnung. Die Zeit, in der wir nur träumen durften, ist wohl vorbei.
Bis Samstag.
John
Charlotte hob den Blick.
Juno sah sie mit großen schmerzerfüllten Augen an. Dann suchte sie in einem anderen Papierstapel nach weiteren Artikeln.
Charlotte las sie mit immer größerer Unruhe. Die Hinweise auf Reformen wurden von Mal zu Mal deutlicher. Mit geradezu jubilierender Leidenschaft wurde die römische Revolution des Jahres ’48 hervorgehoben, die Republik der römischen Antike als Ideal gepriesen und wurden Könige als Leitbilder der Tyrannei verteufelt. Die Aufforderung, nach dem Sturz der Monarchie eine neuzeitliche Republik zu gründen, war unüberhörbar.
Es gab ungenaue Hinweise auf eine Geheimgesellschaft, deren Mitglieder kein anderes Ziel kannten, als die Vorrechte und den Reichtum des Königshauses mit allen Mitteln zu bewahren. Man konnte zwischen den Zeilen lesen, dass diese Männer durchaus bereit seien, bei einer ernsthaften Bedrohung der Monarchie Blut zu vergießen.
Charlotte legte das letzte Blatt aus der Hand und sah zu Juno hinüber, die mit bleichem Gesicht und gesenkten Schultern dasaß und kaum hörbar fragte: »Halten Sie das für möglich? Könnten die wirklich geplant haben, hier in England eine Republik zu errichten?«
»Ja …« Es war Charlotte klar, dass ihre Antwort schroff wirkte, aber es zu bestreiten hätte eine Lüge bedeutet, die weder sie noch Juno geglaubt hätten.
Juno saß reglos da und beugte sich ein wenig vor, als müsse sie sich auf den Tisch stützen. »Nach … nach dem Tod der Königin?«
» Vielleicht.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist zu früh. Sie kann doch jeden Tag sterben, immerhin ist sie über siebzig. Und was haben diese Leute mit dem Kronprinzen vor?«
»Darüber steht hier nichts«, sagte Charlotte ganz leise. »Ich vermute, dass sie sich gehütet haben, das schriftlich niederzulegen, sofern es sich um einen konkreten Plan und nicht nur um Träume handelt. Vor allem, wenn es eine Geheimgesellschaft ist, wie es heißt.«
»Ich habe durchaus Verständnis für eine Reform«, sagte Juno und suchte nach Worten. »Auch ich bin dafür. Es gibt entsetzliche Armut und Ungerechtigkeit. Sonderbar, dass sie nichts über Frauen sagen!« Sie versuchte zu lächeln, doch misslang ihr das. »Sie sagen nichts darüber, dass Frauen mehr Rechte oder eine gewisse Mitsprache haben sollen, nicht einmal dann, wenn es um ihre leiblichen Kinder geht.« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Lippen bebten. »Aber das will ich nicht!« Sie wies mit einer Hand auf die Papiere, als wolle sie sie von sich schieben. »Ich weiß, dass Martin voller Bewunderung für die Ideale einer Republik war, für die Gleichheit, die dort herrscht, aber ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass er damit unser Land meinen könnte! Ich will nicht … ich will eine so große Veränderung nicht.« Sie schluckte. »Nicht mit Gewalt. Mir liegt sehr viel an dem, was wir haben. Es macht unser Wesen aus … immerhin waren wir schon immer so.« Sie sah bittend auf Charlotte, wollte, dass diese sie verstand.
»Aber uns geht es auch gut«, sagte Charlotte. »Und wir sind eine sehr kleine Minderheit.«
»Musste er deshalb sterben?« Juno stellte die Frage, die zwischen ihnen im Raum hing. »Dann hat Adinett wohl dieser Geheimgesellschaft angehört und Martin wegen seines … wegen seines Planes umgebracht, eine Republik zu gründen?«
»Das würde erklären, warum er nicht einmal dann etwas gesagt hat, als es darum ging, sich zu verteidigen.« Charlottes Gedanken jagten sich. Waren die Angehörigen des Inneren Kreises monarchistisch gesinnt? Steckte das dahinter, und war Adinett hinter die Pläne seines Freundes gekommen, hatte er entdeckt, dass sich dessen hoher Gedankenflug nicht nur auf den Glanz der Vergangenheit oder die Tragödien des Jahres ’48 bezog, sondern auch die unmittelbar bevorstehende Zukunft meinte?
Doch selbst wenn das stimmte – inwiefern könnte das Thomas helfen?
Nach wie vor saß Juno da und starrte ausdruckslos vor sich hin. Irgendetwas in ihr war zerstört. Sie hatte an dem Mann, den sie so viele Jahre geliebt hatte, mit einem Mal eine völlig
andere Seite erkannt, die alles infrage stellte und in einem neuen, gefährlichen Licht erscheinen ließ.
Sie tat Charlotte zutiefst Leid, und das hätte sie auch gern gesagt. Doch das konnte als Herablassung aufgefasst werden, als wollte sie sagen, sie allein habe diese Entdeckung gemacht und Juno sei daran nicht beteiligt
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