Die Verschwoerung von Whitechapel
gewesen, sondern habe lediglich die passive Rolle einer Zuschauerin gespielt.
»Haben Sie einen Tresor?«, fragte sie.
»Nein. Meinen Sie, dass darin noch mehr zu finden wäre?«, fragte Juno mit kläglicher Stimme.
»Ich weiß nicht. Auf jeden Fall denke ich, dass Sie diese Briefe und Papiere in einem Tresor aufbewahren sollten, da sich diese Schublade nicht mehr verschließen lässt. Vernichten würde ich sie einstweilen nicht, weil wir im Augenblick noch mutmaßen, was sie wirklich bedeuten. Wir können uns irren.«
Junos Augen blieben glanzlos. »Was Sie da sagen, entspricht nicht Ihrer Überzeugung und auch nicht meiner. Martin hat die Reform sehr am Herzen gelegen. Ich kann mich gut erinnern, was er über die Unterschiede zwischen Republiken und Monarchien gesagt hat. Er hat den Kronprinzen und die Königin kritisiert und erklärt, wenn die Königin dem englischen Volk auf gleiche Weise verantwortlich wäre wie andere Amtsinhaber, hätte man sie schon vor Jahren entlassen. Wer außer ihr könne es sich leisten, seine Pflichten nur deshalb zu vernachlässigen, weil er seinen Ehegatten verloren habe?«
»Niemand«, stimmte Charlotte zu. »Viele sagen das. Auch ich bin dieser Ansicht. Das bedeutet aber nicht, dass mir eine Republik lieber wäre … und selbst dann noch würde ich nicht unbedingt jedes Mittel gutheißen, sie durchzusetzen.«
Mit ernstem Gesicht legte Juno die Papiere zusammen. »Hier findet sich kein Beweis«, sagte sie leise, als schmerze es sie, diese Worte von sich zu geben.
Charlotte wartete unsicher, während sie sich vorsichtig an die nächste Folgerung herantastete. Bevor sie so weit war, sprach Juno.
»Bestimmt gibt es irgendwo noch weitere Papiere, die Genaueres aussagen. Ich muss sie finden, muss wissen, was er vorhatte … man könnte glauben, er habe kein anderes Ziel gehabt.«
Charlotte fragte angespannt: »Sind Sie sicher?«
»Würden Sie es nicht wissen wollen?«, entgegnete Juno.
»Doch … ich denke schon. Aber was ich meinte, war, sind Sie sicher, dass es noch weitere gibt?«
»Aber ja.« In ihrer Stimme lag kein Zweifel. »Das hier sind nur Schnipsel und Notizen. Schon möglich, dass ich nicht genau weiß, woran Martin gearbeitet hat, aber ich weiß, wie er gearbeitet hat. Er war äußerst genau. Er hat sich nie auf sein Gedächtnis verlassen.«
»Und wo könnte das sein?«
»Ich weiß – « Das Mädchen kam herein, um zu melden, dass Mr. Reginald Gleave da sei und um Entschuldigung für die unpassende Stunde bitte, doch müsse er sie unbedingt sprechen und könne wegen dringender Verpflichtungen die übliche Besuchszeit nicht einhalten.
Juno sah verblüfft drein. Sie wandte sich Charlotte zu.
»Ich warte, wo es Ihnen recht ist«, sagte Charlotte rasch.
Juno schluckte. »Ich werde ihn im Gesellschaftszimmer empfangen«, sagte sie dem Mädchen. »Lassen Sie mir fünf Minuten Zeit, dann können Sie ihn hineinführen.« Sobald das Mädchen gegangen war, fragte sie Charlotte: »Was um Himmels willen kann er wollen? Er war Adinetts Verteidiger.«
»Sie sind nicht gezwungen, ihn zu empfangen«, sagte Charlotte voll Mitgefühl, doch war ihr klar, dass sie sich damit eine Gelegenheit entgehen ließe, mehr zu erfahren. Juno war erschöpft, hatte Angst vor dem, was sie womöglich entdecken würde, und fühlte sich völlig allein. »Wenn Sie wollen, gehe ich zu ihm und sage, dass Sie sich nicht wohl fühlen.«
»Nein … nein. Aber ich wäre dankbar, wenn Sie bei mir bleiben könnten. Meinen Sie nicht auch, dass das durchaus schicklich ist?«
Charlotte lächelte. »Selbstverständlich.«
Gleave machte ein verblüfftes Gesicht, als er sich unversehens zwei Damen gegenübersah. Da er Juno nicht kannte, war er einen Augenblick lang unsicher, wer die Hausherrin war.
»Ich bin Mrs. Fetters«, stellte sich Juno kühl vor. »Das ist meine gute Freundin, Mrs. Pitt.« Ihre Stimme klang trotzig,
und sie hatte das Kinn herausfordernd gereckt. Bestimmt würde Gleave die Beziehung zu Thomas Pitt erkennen.
An dem Ärger, der in seinen Augen aufflammte, sah Charlotte, dass er verstanden hatte.
»Wie geht es Ihnen, Mrs. Fetters? Mrs. Pitt? Ich wusste gar nicht, dass Sie miteinander bekannt sind.« Er deutete eine Verbeugung an.
Charlotte betrachtete ihn aufmerksam. Seine breiten Schultern und sein Stiernacken ließen ihn größer erscheinen, als er war. Zwar war ihr sein Gesicht nicht sympathisch, doch lag darauf unverkennbar der Ausdruck von Intelligenz und einem unbeugsamen
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