Die Verschwoerung von Whitechapel
Willen. War dieser Mann lediglich ein leidenschaftlicher Strafverteidiger, der einen Fall – seiner festen Überzeugung nach zu Unrecht – verloren hatte, oder gehörte er einer gewalttätigen Geheimgesellschaft an, die weder vor Mord noch vor öffentlichem Aufruhr zurückschreckte, um ihre Ziele durchzusetzen?
Sie musterte sein Gesicht, sah ihm in die Augen, kam aber zu keinem Ergebnis.
»Was kann ich für Sie tun, Mr. Gleave?«, fragte Juno mit einem leichten Zittern in der Stimme.
Gleaves Blick wanderte zwischen ihr und Charlotte hin und her. »Zuallererst möchte ich Ihnen mein tief empfundenes Beileid aussprechen. Ihr Gatte war in jeder Hinsicht ein großartiger Mensch. Natürlich lässt sich der Kummer keines anderen mit dem Ihren vergleichen, dennoch darf ich sagen, dass sein Tod uns alle ärmer gemacht hat. Er war ein Mann von großen geistigen Gaben und von hoher Moral.«
»Danke«, sagte sie höflich, doch klang es fast ungehalten. Beiden war klar, dass er nicht gekommen war, um der Witwe das mitzuteilen, ganz davon abgesehen, dass es besser gewesen wäre, zu schreiben. Das wäre nicht nur eindrucksvoller gewesen, sondern auch weniger lästig.
Gleave senkte den Blick, als fühle er sich unbehaglich.
»Mrs. Fetters, mir liegt daran, Ihnen klarzumachen, dass ich John Adinett verteidigt habe, weil ich von seiner Schuldlosigkeit überzeugt war, und nicht etwa, weil ich mir für den Fall seiner Schuld irgendeine Rechtfertigung seiner Tat zurechtgelegt
hätte.« Er hob rasch den Blick. »Es ist mir nach wie vor nahezu unmöglich, mir vorstellen, dass er einer solchen Tat fähig gewesen sein sollte, denn es gab dafür … keinen … Grund!«
Schaudernd merkte Charlotte, dass er Juno bei diesen Worten eindringlich musterte. Seine Augen tasteten ihr Gesicht so genau ab, dass ihm vermutlich nicht der leiseste Atemzug entging, kein noch so winziges Zucken ihrer Wimpern. Er beobachtete sie wie ein Raubtier seine Beute. Er war gekommen, um zu erfahren, wie viel sie wusste, wollte offenbar sehen, ob sie etwas herausbekommen, erraten oder vermutet hatte.
Charlotte hoffte, dass ihm Juno auf keinen Fall etwas sagte, sich unwissend und notfalls dumm stellte. Ob es besser wäre, einzugreifen und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen? Oder würde er daraus schließen, dass sie Angst hatte, was die Vermutung nahe legte, dass sie etwas wusste? Sie atmete tief ein und stieß die Luft wieder aus.
»Nein«, sagte Juno gedehnt. »Natürlich nicht. Ich muss gestehen, ich begreife es selbst nicht.« Es kostete sie Mühe, sich zu entspannen. Ihre verkrampften Hände lösten sich, und sie lächelte sogar ein wenig. »Ich habe die beiden immer nur als die besten Freunde erlebt.« Sie sagte nichts weiter, überließ es ihm, den Faden aufzunehmen.
Damit hatte er sichtlich nicht gerechnet. Einen Augenblick lang trat der Ausdruck von Unsicherheit auf seine Züge, verschwand aber sofort wieder. Gelöst fragte er: »Sie also auch?« Er erwiderte ihr Lächeln und vermied es, Charlotte anzusehen. »Ich wüsste gern, ob Sie irgendeine Vorstellung davon haben, was sich in so tragischer Weise auf die Beziehung der beiden Männer ausgewirkt haben könnte. Mir ist klar, dass es dabei nicht um Beweismaterial geht«, fügte er eilig hinzu, »sonst hätten Sie das den zuständigen Stellen mitgeteilt. Aber vielleicht vermuten Sie etwas, aus der Kenntnis Ihres Mannes heraus.«
Juno schwieg.
Gleaves Stimme klang glatt, aber erneut sah Charlotte den Anflug von Unsicherheit auf seinen Zügen. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass das Gespräch eine solche Wendung nehmen könnte. Er konnte es nicht steuern, wie es wohl
seine Absicht gewesen war. Juno brachte ihn dazu, mehr zu sagen, als er gewollt hatte, weil sie selbst fast nichts sagte. Jetzt musste er sein Interesse erklären.
»Ich bitte um Entschuldigung, dass ich der Sache weiter nachgehe, Mrs. Fetters. Der Fall lässt mir keine Ruhe, weil er so … ungelöst erscheint. Ich …« Er schüttelte den Kopf. »Es kommt mir vor, als hätte ich versagt.«
»Ich glaube, niemand hat das wirklich verstanden, Mr. Gleave«, gab Juno zur Antwort. »Ich würde die Sache gern für Sie aufklären, kann das aber leider nicht.«
»Auch für Sie muss das sehr betrüblich sein.« Mitgefühl schwang in seiner Stimme. »Der Wunsch zu verstehen ist Teil des Kummers.«
»Sehr gütig«, sagte sie schlicht.
Jetzt flammte der Funke wieder in ihm auf, wenn auch so schwach, dass man es kaum merken
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