Die Verschwoerung von Whitechapel
konnte. Charlotte begriff, dass Juno ein Fehler unterlaufen war. Sie hatte sich zurückhaltend statt offen gezeigt. Ob sie nicht doch eingreifen sollte? Oder würde sie damit alles nur schlimmer machen? Wieder konnte sie den Impuls, etwas zu sagen, nur mit Mühe unterdrücken. War dieser Gleave wirklich nur ein Strafverteidiger, der den Prozess um einen seiner Ansicht nach schuldlosen Mandanten verloren hatte, was ihm seine Kollegen möglicherweise verübelten? Oder gehörte er einer mächtigen und schrecklichen Geheimgesellschaft an und war gekommen, um festzustellen, wie viel die Witwe wusste, ob es Papiere gab – Beweismaterial, das unter allen Umständen vernichtet werden musste?
»Ich muss gestehen«, sagte Juno mit einem Mal, »dass ich gern wüsste, warum … was …« Sie schüttelte den Kopf, und Tränen traten ihr in die Augen. »Warum Martin gestorben ist. Und ich weiß es nicht! Es ergibt überhaupt keinen Sinn.«
Gleave antwortete auf die einzige ihm mögliche Art. »Ich bedaure außerordentlich, Mrs. Fetters. Es war nicht meine Absicht, Sie zu bekümmern. Wie ungeschickt von mir, das Thema überhaupt anzusprechen. Bitte vergeben Sie mir.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe durchaus, Mr. Gleave. Sie haben an Ihren Mandanten geglaubt und sind gewiss ebenfalls bekümmert. Ich habe nichts zu vergeben. Offen gesagt,
hätte ich Sie gern gefragt, ob Ihnen das Motiv für die Tat bekannt ist, aber natürlich dürften Sie das nicht einmal dann sagen, wenn Sie es wüssten. Nun haben Sie zumindest deutlich gemacht, dass Sie nicht mehr wissen als ich, und dafür danke ich Ihnen. Vielleicht kann ich die Sache jetzt doch auf sich beruhen lassen und mich anderen Dingen zuwenden.«
»Ja … ja, das wäre am besten«, stimmte er zu und sah Charlotte zum ersten Mal offen an. Mit seinen klug wirkenden dunklen Augen schien er ihre Gedanken lesen zu wollen. Möglicherweise lag in ihnen sogar eine Warnung.
»Es war sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. Pitt.« Obwohl er nichts weiter sagte, schwang in den Worten unverkennbar eine Botschaft mit.
»Ganz meinerseits, Mr. Gleave«, antwortete sie freundlich.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als sich Juno mit bleichem Gesicht und am ganzen Leibe zitternd Charlotte zuwandte.
»Er wollte wissen, was wir gefunden haben!«, sagte sie mit belegter Stimme. »Deswegen ist er doch gekommen, nicht wahr?«
»Ich denke schon«, stimmte ihr Charlotte zu. »Das bedeutet, dass Sie mit Ihrer Annahme, es müsse etwas geben, Recht haben. Ich weiß zwar nicht, wo, aber es ist wichtig!«
Ein Schauer überlief Juno. »Dann müssen wir es finden! Wollen Sie mir helfen?«
»Selbstverständlich.«
»Vielen Dank. Ich werde überlegen, wo wir suchen können. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Ich brauche jetzt unbedingt eine!«
Bisher hatte Charlotte Tante Vespasia nichts von dem gesagt, was Pitt widerfahren war. Es war ihr peinlich. Auch wenn der Grund nicht etwa in einem Dienstversäumnis lag, eher ganz im Gegenteil, hielt sie es für besser, wenn andere nichts von dieser unangenehmen Geschichte erfuhren, vor allem Menschen, an deren guter Meinung Pitt viel lag, und zu denen gehörte Vespasia auf jeden Fall.
Doch mittlerweile belastete das Ganze Charlotte so sehr, dass
sie es nicht mehr allein ertragen konnte. Da sie sonst niemandem traute und auch bei keinem anderen Menschen die Fähigkeit voraussetzte, die Zusammenhänge zu erfassen und ihr zu raten, suchte sie Vespasia am Tag nach ihrem Besuch bei Juno Fetters auf. Das Mädchen ließ sie ein. Vespasia saß noch im ganz in Gelb und Gold gehaltenen Frühstückszimmer und forderte Charlotte auf, zumindest eine Tasse Tee mit ihr zu trinken.
»Du siehst ziemlich mitgenommen aus, meine Liebe«, sagte sie freundlich, während sie eine hauchdünne Toastscheibe mit ein wenig Butter und reichlich Aprikosenkonfitüre bestrich. »Vermutlich bist du gekommen, um mit mir über den Grund dafür zu sprechen?«
Charlotte war froh, dass sie sich nicht zu verstellen brauchte. »Ja. Eigentlich geht das schon seit drei Wochen so, aber erst gestern habe ich gemerkt, wie schwerwiegend das Ganze ist. Ich weiß nicht mehr ein noch aus.«
»Hat Thomas keine Meinung dazu?«, fragte Vespasia mit gerunzelter Stirn und vergaß ganz ihren Toast.
»Man hat ihm das Kommando über die Wache in der Bow Street genommen und ihn zum Sicherheitsdienst nach Spitalfields geschickt«, stieß Charlotte hervor. In ihren Worten
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