Die Verschwoerung von Whitechapel
einfach nichts mehr gegessen«, stimmte der Mann mit betrübtem Gesicht zu. »Keinen einzigen Happen.«
»War er krank? Vielleicht konnte er nicht essen?«, bohrte Tellman nach.
»Doch, der konnte essen, aber er hat einfach damit aufgehört.« Wieder zog er die Nase hoch. »Am vierzehnten Januar. Das weiß ich noch genau, weil genau an dem Tag die Nachricht kam, dass der arme Herzog von Clarence tot war. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun. Er hatte den Herzog richtig gut gekannt und immer über ihn geredet. Malstunden hatte er ihm gegeben, hat er gesagt.«
»Tatsächlich?« Tellman wusste nicht, was er davon halten sollte. Je mehr er erfuhr, desto weniger Sinn machte das Ganze. Ihm kam es unwahrscheinlich vor, dass der Mann, der sich dort zu Tode gehungert hatte, tatsächlich den ältesten Sohn des Kronprinzen gekannt haben sollte. »Sind Sie Ihrer Sache sicher?«
»Natürlich! Was wollen Sie wissen?« Er kniff die Augen argwöhnisch zusammen; auch in seiner Stimme war Misstrauen zu hören. Wieder zog er die Nase hoch, dann suchte er nach einem Taschentuch.
Tellman beherrschte sich mit Mühe. Er durfte sich die Sache nicht verderben.
»Ich muss ganz sicher sein, dass ich den richtigen Mann habe«, log er und hoffte, dass es glaubwürdig klang.
Der Mann hatte sein Taschentuch gefunden und schnäuzte sich ausgiebig.
»Er war ’n Lehrer des Prinzen«, erklärte er. »Wahrscheinlich hat der arme Teufel es sich zu Herzen genommen, wie er gehört hat, dass der Prinz tot war. Er war sowieso nicht ganz richtig im Kopf.«
»Wann ist er gestorben?«
»Am dritten Februar«, sagte der Mann und steckte das Taschentuch ein. »’n schrecklicher Tod.« Auf seinen Zügen lag Mitleid. »Der arme Kerl schien dem Burschen, hinter dem Sie her sind, wichtig zu sein, aber der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, warum! Irgend’n armer Verrückter will sterben – vor Kummer, soweit ich weiß –, und er stürmt hier raus wie’n Jagdhund, der hinter’nem Hasen her is. Er hat vor Aufregung gezittert, ganz ehrlich. Mehr weiß ich nicht.«
»Danke, Sie haben mir sehr geholfen.« Mit einem Mal fiel Tellman der Zugfahrplan ein. »Danke«, wiederholte er, verließ den Raum und eilte im Laufschritt durch den Korridor nach draußen, wo er eine Droschke suchte, die ihn zum Bahnhof bringen konnte.
Er bekam den Zug im letzten Augenblick und lehnte sich zufrieden im Sitz zurück. Die erste Stunde verbrachte er damit, alles zu notieren, was er in Erfahrung gebracht hatte, und die zweite mit dem Versuch, sich eine glaubhafte Geschichte für den kommenden Tag auszudenken, die einerseits nicht allzu sehr von der Wahrheit abwich und Wetron andererseits davon überzeugte, dass er einer dienstlichen Aufgabe nachgegangen war. Es gelang ihm nicht.
Warum hatte der arme Stephen nicht mehr leben wollen, als er vom Tod des jungen Herzogs von Clarence erfahren hatte? Und wieso interessierte sich Remus dafür? Zwar war das eine tragische Geschichte, aber offenkundig hatte dieser Stephen bereits als geisteskrank gegolten, sonst hätte man ihn nicht dort im Irrenhaus eingesperrt.
Und was hatte all das mit William Crook zu tun, der im vorigen Dezember im Krankenhaus von St. Pancras eines ganz und gar natürlichen Todes gestorben war? In welcher Beziehung stand das alles zu dem Tabakladen in der Cleveland
Street? Vor allem aber: Was hatte John Adinett damit zu tun?
In London sprang Tellman auf den Bahnsteig und sah sich nach Remus um. Fast hatte er die Hoffnung aufgegeben, ihn zu entdecken, als er sah, dass er langsam zwei Wagen vor ihm ausstieg. Vermutlich war er unterwegs eingeschlafen. Er machte sich auf den Weg zum Ausgang, anfangs auf etwas unsicheren Füßen.
Wieder folgte ihm Tellman, trotz der Gefahr, entdeckt zu werden. Zum Glück war es an den langen Sommerabenden um kurz vor neun noch hell genug, um jemanden auf einer ziemlich belebten Straße auch aus mehr als zwanzig Metern Entfernung im Auge zu behalten.
Remus suchte ein Gasthaus auf und bestellte etwas zu essen. Er schien es nicht eilig zu haben. Tellman wollte schon gehen, weil er annahm, dass auch Remus bald heimkehren würde, doch dann sah dieser auf die Uhr und bestellte noch ein Glas Bier.
Er wollte sich also mit jemandem treffen, entweder dort oder anderswo.
Tellman wartete. Eine Viertelstunde später erhob sich Remus, verließ das Lokal und winkte einer Droschke. Sie war fast schon außer Sichtweite, als auch Tellman eine fand. Er forderte den Kutscher auf, keinesfalls
Weitere Kostenlose Bücher