Die Verschwoerung von Whitechapel
früher einmal in der Cleveland Street gelebt haben. Am liebsten hätte ich es ihm nicht gesagt.« Sie seufzte. »Aber welchen Sinn hat das? Meine Tochter Annie hat da in einem Tabakladen gearbeitet.« Der entsetzliche Kummer, der dabei auf ihr Gesicht trat, erschütterte Tellman. Dann sah ihr Gesicht wieder so aus wie zuvor, und er hörte, wie er sie weiter fragte: »Was wollte er noch wissen, Mrs. Crook?«
»Ob ich mit einem J. K. Stephen verwandt bin«, sagte sie. Ihre Stimme klang matt, als habe sie keinen Willen mehr, gegen das Unausweichliche anzukämpfen. »Mein Mann war mit ihm verwandt, seine Mutter war seine Kusine.«
Tellman wusste nicht, was er denken sollte. Von einem J. K. Stephen hatte er noch nie gehört.
»Aha.« Er wusste lediglich, dass die Sache Remus ungeheuer wichtig war, sonst wäre er nicht umgehend zum Bahnhof gegangen, um eine Fahrkarte nach Northampton zu kaufen. »Danke, Mrs. Crook. Hat er sonst nichts weiter gefragt?«
»Nein.«
»Hat er Ihnen einen Grund genannt, warum er das wissen wollte?«
»Er hat behauptet, das wäre nötig, damit eine große Ungerechtigkeit aus der Welt geschafft wird. Ich hab ihn nicht gefragt, worum es da ging. Es könnte etwas X-Beliebiges sein.«
»So ist es. Was die Ungerechtigkeit betrifft, hat er allerdings Recht … immer vorausgesetzt, dass es ihm wirklich um die geht.« Er neigte den Kopf. »Guten Tag, Ma’am.«
»Guten Tag.« Sie schloss die Tür.
Auf der langweiligen Fahrt nach Northampton ging Tellman im Kopf alle Möglichkeiten durch, die ihm als Grund für Remus’ Unternehmen einfielen. Sie wurden von Minute zu Minute fantastischer. Vielleicht war das Ganze sinnlos, eine gigantische Luftblase? Die Sache mit der Ungerechtigkeit war möglicherweise nichts anderes als ein Kniff, um Mrs. Crook zum Reden zu bringen. Vielleicht ging es Remus lediglich um
einen Skandal? Schließlich war das im Fall des Mordes am Bedford Square genau so gewesen. Zeitungen waren auf Skandalgeschichten erpicht, weil sie damit ihre Auflage steigern konnten.
Aber Adinett hatte das Haus in der Cleveland Street bestimmt nicht deshalb aufgesucht, es voll Erregung verlassen und sich auf den Weg zu Dismore gemacht. Das Elend anderer Menschen als solches interessierte ihn nicht.
Nein, es gab einen anderen Grund, und Tellman musste ihn finden.
In Northampton stieg Remus aus und nahm eine Droschke. Tellman nahm die nächste und wies den Kutscher an, seinem Kollegen zu folgen. Während es in raschem Trab durch die im Sonnenlicht daliegenden Straßen des Provinzstädtchens ging, beugte sich Tellman gespannt vor. Die Wagen hielten schließlich vor einem finsteren Gebäude, das sich als Irrenanstalt herausstellte.
Tellman wartete draußen am Tor, wo man ihn nicht sehen konnte. Als Remus fast eine Stunde später wieder auftauchte, war sein Gesicht vor Erregung gerötet, seine Augen glänzten, und er schritt so kräftig aus, dass er es wohl kaum gemerkt hätte, wenn er mit Tellman zusammengestoßen wäre.
Sollte er Remus wieder folgen und sehen, wohin er jetzt ging, oder festzustellen versuchen, was er gerade in Erfahrung gebracht hatte? Unbedingt Letzteres. Abgesehen von allem anderen blieb ihm nicht mehr viel Zeit, um zum Bahnhof zurückzukehren und den letzten Zug nach London zu erreichen. Es würde ohnehin nicht einfach sein, Wetron zu erklären, warum er den ganzen Tag fort gewesen war.
Er ging ins Büro der Anstalt und zeigte seinen Dienstausweis. Die Lüge kam ihm leicht über die Lippen. »Ich untersuche einen Mordfall. Ich bin von London einem Mann hierher gefolgt, etwa meine Größe, um die dreißig, rötliches Haar, nussbraune Augen. Sie sollten mir alles sagen, wonach er Sie gefragt hat und welche Auskünfte Sie ihm gegeben haben.«
Der Mann zwinkerte überrascht und hob seine blassblauen Augen zu Tellman, wobei seine Hand mit dem Gänsekiel mitten in der Luft verharrte.
»Der hat sich nach keinem Mord erkundigt«, begehrte er auf. »Der arme Schlucker ist auf ganz natürliche Weise gestorben, wenn man es natürlich nennen kann, dass er sich zu Tode gehungert hat.«
»Zu Tode gehungert?« Tellman wusste zwar nicht, was er erwartet hatte, doch auf keinen Fall Selbstmord. »Von wem sprechen Sie?«
»Natürlich von Mr. Stephen. Nach dem hat er sich erkundigt.«
»Mr. J. K. Stephen?«
»Genau der.« Er zog die Nase hoch. »Armer Kerl. Total verrückt. Aber sonst wär er ja wohl auch nicht hier gewesen, oder?«
»Und er hat sich zu Tode gehungert?«
»Hat
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