Die Verschwoerung von Whitechapel
gestorben wären, als sich der die Seele abtötenden Knechtung jener Einrichtung auszuliefern.
Remus sprach eine alte Frau an, die ein Wäschebündel trug.
Gracie schob sich so nah heran, dass sie hören konnte, was gesagt wurde. Sie hoffte, er konzentriere sich derart auf seine Suche, dass er ihre Anwesenheit nicht bemerkte. Während sie die Ohren spitzte, sah sie zur anderen Straßenseite hinüber, als warte sie auf jemanden.
»Entschuldigung …«, begann Remus.
»Ja?«, sagte die Frau. Es klang nicht besonders entgegenkommend.
»Wohnen Sie hier in der Gegend?«, fuhr er fort.
»Gleich da vorne«, sagte sie und wies ein Stück weiter.
»Dann können Sie mir vielleicht helfen«, bat Remus mit Nachdruck. »Haben Sie auch vor vier oder fünf Jahren hier gewohnt?«
»Sicher, warum?« Sie verzog misstrauisch und abweisend das Gesicht.
»Kommen viele Kutschen hierher, große, mit vier Rädern, keine Droschken?«, wollte Remus wissen.
Mit verächtlicher Miene stieß sie hervor: »Sehn wir so aus
wie Leute, die Kutschen ha’m? Se könn’ von Glück sagen, wenn Se hier ’ne Droschke finden. Am besten laufen Se, wie wir andern auch.«
»Ich möchte jetzt keine Kutsche!« Er fasste sie am Arm. »Ich suche jemanden, der vor vier Jahren hier in der Gegend eine gesehen hat.«
Ihre Augen weiteten sich. »Und woher soll ich das wissen? Das interessiert mich nich. Verschwinden Se un lassen Se uns zufrieden! Los, Mann! Hau’n Se ab!« Sie riss sich los und eilte davon.
Remus schien enttäuscht. Sein angespanntes Gesicht wirkte im Licht des Vormittags überraschend jung. Gracie überlegte, wie er wohl zu Hause sein mochte, was er las, was ihm am Herzen lag, ob er Freunde hatte. Was trieb ihn zu dieser Suche an? War es Liebe oder Hass, Geldgier oder Ruhmsucht? Oder einfach Neugier?
Er überquerte die Straße, ging am Pavilion Theatre vorüber und bog nach links in die Hanbury Street ein. Er hielt mehrere Vorüberkommende an, stellte ihnen Fragen. Vermutlich wieder dieselben: über geschlossene Kutschen, mit denen sich feine Herren in jener Gegend auf die Suche nach Amüsement gemacht haben mochten.
Als er geradeaus weiter zur Kirche der Methodisten ging, wahrte Gracie einen größeren Abstand. Endlich schien er jemanden gefunden zu haben, der ihm eine brauchbare Antwort gab, denn er reckte den Kopf, straffte die Schultern und fuchtelte überraschend lebhaft mit den Händen herum.
Wegen der großen Entfernung konnte sie nicht hören, was man ihm gesagt hatte.
Doch selbst wenn jemand eine solche Kutsche gesehen hatte – was hatte das zu bedeuten? Nichts. Jemand mit mehr Geld als Verstand, jemand mit einem zweifelhaften Geschmack, war in dies Stadtviertel gekommen, um nach billigen Frauen Ausschau zu halten. Vielleicht gewann er Lust aus der damit verbundenen Gefahr. Sie hatte gehört, dass es solche Menschen geben solle. Und was hatte es zu bedeuten, falls das Martin Fetters gewesen war? Wen außer seiner Frau würde das aufregen, wenn es bekannt würde?
Wenn es aber nun Remus gar nicht um das Motiv für den Mord an Fetters ging? Vielleicht verschwendete Gracie hier ihre Zeit, oder genauer gesagt, Charlottes Zeit?
Sie kam zu einem Entschluss.
Sie trat aus dem Hauseingang heraus, in dem sie gestanden hatte, und ging auf Remus zu, wobei sie sich bemühte, den Eindruck zu erwecken, als gehöre sie dorthin, kenne ihr Ziel und wisse genau, was sie zu tun habe. Sie war schon fast an ihm vorüber, als er sie ansprach. »Entschuldigung.«
Sie blieb stehen. »Ja?« Ihr Herz hämmerte, und der Atem stockte ihr fast.
»Ich bitte um Verzeihung«, begann er. »Aber leben Sie schon eine Weile hier? Ich suche jemanden, der bestimmte Dinge weiß.«
Sie entschied sich, so zu antworten, dass er sie nicht durch Fragen über jüngere Ereignisse oder die nähere Umgebung entlarven konnte, von der sie nicht viel wusste.
»Ich war ’ne Weile weg.« Sie schluckte. Ihre Stimme klang gepresst. »Vor ’n paar Jahren hab ich hier aber gelebt.«
»Auch vor etwa vier Jahren?«, fragte er eifrig mit leicht gerötetem Gesicht.
»Ja«, sagte sie nachdenklich und sah ihm dabei fest in die braunen Augen. »Damals war ich hier. Was woll’n Se denn?«
»Können Sie sich erinnern, Kutschen hier gesehen zu haben? Ich meine herrschaftliche Kutschen, keine Droschken.«
Sie verzog ihr Gesicht, als ob sie sich konzentrieren müsse. »Meinen Se so private?«
»Ja! Genau!«, sagte er drängend.
Sie sah ihn nach wie vor an und erkannte die
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