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Die verschwundene Frau

Die verschwundene Frau

Titel: Die verschwundene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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mehr ein Archäologe Spuren von der Sache gefunden hätte. Ich hatte damals schon sehr bald gemerkt, dass es ein Riesenfehler gewesen war, mit jemandem ins Bett zu gehen, der so auf Konkurrenzkampf aus war wie Murray. Wer hatte sich überhaupt die Mühe gemacht, Regine Mauger von der Geschichte zu erzählen? Murray selbst vielleicht, weil er verletzt darüber war, dass ich nicht begeistert genug auf sein Fernsehdebüt reagiert hatte? »Der schwirrt um die Kamera wie Fliegen um den Scheißhaufen«, sagte ich erbost.
    Der Artikel erinnerte mich daran, dass Alexandra Fisher gesagt hatte, sie habe zusammen mit mir Jura studiert. Wahrend Mr. Contreras sich weiter intensiv mit den Anzeigen beschäftigte, ging ich zu dem Schrank im Flur und holte den großen Koffer heraus, in dem ich alle möglichen Erinnerungen an meine Vergangenheit aufbewahre.
    Ganz obenauf lag, eingewickelt in eine Baumwollhülle, das Konzertgewand meiner Mutter. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Hülle zurückzuschlagen und die Finger über die Silberspitze und die schwarze Seide gleiten zu lassen. Der Stoff brachte sie so greifbar zu mir zurück, als halte sie sich im Nachbarzimmer auf. Sie hatte immer gewollt, dass ich unabhängig leben konnte und nicht die Kompromisse machen musste, die sie der Sicherheit wegen eingegangen war. AIs ich ihr Kleid in meiner Hand spürte, wünschte ich sie mir zurück, wünschte mir, dass sie mich vor den großen und kleinen Schlägen des Lebens beschützte.
    Doch dann legte ich das Kleid entschlossen beiseite und wühlte in dem Koffer herum, bis ich das Verzeichnis der Jura-Studenten fand. Wir hatten einen Michael Fisher gehabt und einen Claud, aber keine Alexandra. Ich wollte das Heft gerade zuklappen, als mein Blick auf den Namen über dem von Claud fiel: Sandra Fishbein.
    Auf dem Foto war ein trotziges Gesicht mit breitem Mund und dichten wilden Locken zu sehen. Sie war die Zweitbeste in unserem Kurs gewesen und als Aufmischerin verschrien. Jetzt fiel mir wieder ein, dass sie mich damals ziemlich angeblafft hatte, weil ich mich nicht an ihrem Sit-in für die Einrichtung von Damentoiletten beteiligt hatte.
    Du bist aus der Arbeiterklasse, hatte sie mir nicht zum erstenmal gesagt, gerade du solltest dir nicht von der herrschenden Klasse auf den Zehen rumtrampeln lassen. Ich erinnerte mich ganz genau: Sie stammte aus einer Familie, in der die Kinder zum High-SchoolAbschluß eine Europareise geschenkt bekamen. Die Tatsache, dass ich, vielleicht als einzige des Kurses, aus der Arbeiterschicht kam, gab ihr offenbar das Gefühl, meine Unterstützung oder meine Billigung oder meine Hochachtung zu brauchen - was genau, habe ich nie herausgefunden.
    Es ist deine herrschende Klasse und es sind deine Zehen, hatte ich damals geantwortet, und das hatte sie nur noch wütender gemacht. Wenn du kein Teil der Lösung sein willst, bist du ein Teil des Problems, hatte sie mich angeherrscht. Ach, die altbewährte, abgedroschene Rhetorik. Sie hatte mir zu meinem Entschluss, als Pflichtverteidigerin zu arbeiten, gratuliert und war selbst in den Mitarbeiterstab eines schnieken Richters gegangen.
    Ja, ja. Und am Ende war unsere kleine Radikale in Hollywood gelandet, hatte sich die wilde Mähne stutzen lassen, ihren Namen geändert und ihre politisches Bewusstsein amputiert. Kein Wunder, dass sie mich im Golden Glow so herausfordernd angestarrt hatte.
    Ich legte das Verzeichnis weg. Als ich Jura studierte, litt mein Vater unter einem Emphysem, und seine Krankheit beeinflusste damals alle meine Entscheidungen, angefangen bei der zu heiraten, um so vielleicht noch ein Enkelkind in die Welt zu setzen, bevor er starb, bis zu der, mich von der Hochschulpolitik abzuwenden. Ich hatte mich seinerzeit für die Tätigkeit als Pflichtverteidigerin entschieden, um in Chicago und in seiner Nahe bleiben zu können. Er war zwei Jahre später gestorben. Meine Ehe hatte auch nicht viel länger gehalten. Und ein Kind hatte ich nie gehabt.
    Die Hunde liefen rastlos hin und her, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie unbedingt raus mussten. Ich legte das Seidenkleid sorgfaltig wieder zusammen und schob den Koffer in den Schrank zurück Dann versprach ich den Hunden, mit ihnen spazierenzugehen, sobald ich einen Blick in mein elektronisches Notizbuch geworfen hatte. Um ein Uhr sollte ich mich mit einem meiner wenigen wichtigen Klienten treffen - wichtig hieß soviel wie hoher Vorschuss, gute Rechnung, prompte Bezahlung. Doch wegen der Verzögerung,

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