Die verschwundene Frau
Vorarbeiter hat heute einer Frau, die mit mir gesprochen hat, gedroht, ihren Kindern etwas anzutun. Ob es dabei um etwas Bestimmtes geht, das die Frauen nicht sagen sollen, oder ob das nur der allgemeinen Atmosphäre der Bedrohung und Beschimpfung zuzurechnen ist, weiß ich nicht. Jedenfalls ist es ausgesprochen merkwürdig, dass in der Näherei nur Frauen arbeiten, die kein Englisch können.«
Morrell trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. »Vic, habe ich Ihre Erlaubnis, zu Freeman zu gehen und ihm zu sagen, dass er die Kaution so schnell wie möglich hinterlegen soll? Möglicherweise müsste er nicht einmal das Wochenende abwarten.«
Ich rieb mir das Gesicht, überwältigt von dem Wunsch, den Kopf einfach auf den Tisch zu legen und mich auszuheulen. Alles, was ich seit jenem Abend, an dem ich Nicola Aguinaldo gefunden hatte, getan hatte, erschien mir jetzt so sinnlos. Meine Karriere war zu Ende, ich selbst durch die Wochen in Coolis demoralisiert, und ich wusste genausowenig wie einen Monat zuvor, warum Baladine hinter mir her war.
»Ja, sagen Sie Freeman, er soll die Kaution für mich hinterlegen. Mir bleibt sowieso nicht mehr viel Zeit, bis mein Lügengebäude hier einstürzt. Alle Insassinnen wissen, dass ich Englisch spreche, dass ich sogar juristische Briefe für manche Frauen geschrieben habe. Es wird nicht lange dauern, bis der Typ, der die Näherei leitet, Wind davon bekommt, und dann... tja, die geringste Strafe, die ich mir vorstellen kann, ist die, dass ich wieder zurück in die Küche muss.«
»Vic, ich weiß wirklich nicht, ob Sie einfach nur idealistisch sind oder völlig von der Rolle, aber jedenfalls sind Sie mehr wert als ein Dutzend Alex Fishers, übrigens inklusive ihrer Aktienbestände. Bitte stellen Sie nichts allzu Tollkühnes an, bevor Freeman Sie hier herausholen kann.« Dann spürte ich den Bruchteil einer Sekunde seine Lippen auf meinem Handrücken, und schon war er weg.
An jenem Nachmittag hatte Polsen keinen Dienst; die Aufseherin tastete mich nur flüchtig ab und schickte mich zurück in meine Zelle, wo wir vor dem Essen wieder gezählt wurden. Ich strich mir mit dem Handrücken über die Wange. Eine letzte Chance hatte ich noch, etwas Brauchbares über Coolis herauszufinden. Ich weiß nicht, ob Ich von Idealismus oder von Wahnsinn getrieben wurde, aber jedenfalls bekam ich bei dem Gedanken an den einzigen Plan, der mir einfiel, eine Gänsehaut, und ich blieb zitternd unter meiner Decke liegen, während Solina und ihre Gefährtinnen geschlossen zum Speisesaal marschierten.
Fotosession
Mitten in der Nacht, als ich nicht schlafen konnte, schrieb ich Lotty einen Brief. Vom Flur drang genug Licht herein, dass ich das, was ich zu Papier brachte, einigermaßen erkennen konnte.
Ich wollte Lotty mitteilen, wie wichtig sie mir immer gewesen war, seit meiner Studentenzeit an der University of Chicago, als ich nicht nur jung, sondern auch noch ziemlich naiv gewesen war. Sie hatte mich unter ihre Fittiche genommen und mir die Grundlagen des höflichen zwischenmenschlichen Umgangs beigebracht, die ich in meinem rauhen Viertel und mit meiner todkranken Mutter nicht mitbekommen hatte. Irgendwann im Lauf der Jahre war sie dann vom Mutterersatz zur Freundin geworden.
Ich schrieb:
Falls ich tatsächlich tollkühn bin, wie Du behauptest, Lotty, liegt das nicht daran, dass ich Dich nicht gern habe. Ich mache Dir wirklich ungern Kummer, und ich weiß, dass Du Kummer haben wirst, wenn mir etwas passiert. Ich habe einfach keine Antwort auf dieses Rätsel. Es geht mir nicht um den alten Macho-Satz, dass Du mir gar nicht so wichtig sein könntest, wenn die Ehre mir nicht noch wichtiger wäre, sondern um die Angst, dass ich auf ewig mit meiner Ohnmacht leben muss, wenn ich mich nicht selbst um alles kümmere. Du hast mir mehr als jeder andere, den ich kenne, geholfen, dieses Gefühl der Ohnmacht im Zaum zu halten. Danke für all die Jahre der Liebe, die Du mir geschenkt hast.
Am Morgen steckte ich den Brief rasch in einen Umschlag, ohne ihn noch einmal durchzulesen. Auf dem Weg zum Frühstück gab ich ihn dann Aufseher Cornish.
Die Henkersmahlzeit: Cornflakes, Orangensaftkonzentrat, wässriger Kaffee, eine Scheibe durchweichter Toast. Um neun brachte Aufseher Cornish mich zu dem Teil des Gefängnisses, in dem sich die Arbeitsräume befanden. Dort wurden wir wieder gezählt und marschierten dann die Flure zu unseren jeweiligen Arbeitsbereichen hinunter. Eine Gruppe wurde zu den
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