Die verschwundene Frau
Kontakte am besten gelingt auszuwandern, sobald sie aus dem Gefängnis entlassen sind. Aber was ist mit den anderen? Was passiert mit denen?«
Der Kellner trat an unseren Tisch und fragte, ob wir noch einen Wunsch hätten. Ich bat ihn, den Cabernet mitzunehmen und mir statt dessen einen Black Label zu bringen. »Verstehe, so jemand wäre also Aishas Vater.«
»Ja, Aishas Vater. Wie sind Sie auf ihn gekommen?«
Ich lächelte. »Ich bin selbst in einer Gegend mit vielen Ausländern aufgewachsen wie Aisha und Mina. Unter Kindern gibt es keine Geheimnisse, am allerwenigsten, wenn jemand wie Sie oder ich von außen dazukommt.«
»Ja. Ich mache mir immer Sorgen darüber, was die Kinder wem erzählen, aber wenn man ihnen einschärft, dass sie den Mund halten sollen, verhalten sie sich gegenüber Fremden noch verdächtiger. Sie haben mir von Ihnen erzählt. Dass Sie Polizistin sind und einen Polizeihund dabeihatten. Dass Sie nach Senora Mercedes suchen.«
Ich nahm einen Schluck Whisky. »Wenn Sie mit zu mir kommen würden, könnte ich Ihnen den Polizeihund vorstellen. Es handelt sich um eine achtjährige, unverbesserlich gutmütige Golden-Retriever-Hündin. Ich wollte sie Senora Mercedes bestimmt nicht auf den Hals hetzen. Und ich hatte auch nichts mit Abschiebung im Sinn. Ihre Tochter ist vor genau einer Woche aus der Gefangenenstation des Coolis-Hospitals geflohen und lag wenig später tot nur ein paar hundert Meter von ihrer alten Haustür entfernt auf der Straße.«
«Und wieso interessieren Sie sich für die junge Frau?«
»Ich habe sie Dienstag nacht auf der Straße gefunden. Sie ist ein paar Stunden später im OP des Beth-Israel-Krankenhauses an einer schweren Bauchfellentzündung gestorben, hervorgerufen durch einen heftigen Schlag oder Tritt in den Unterleib. Ich würde gern erfahren, wie sie von Coolis in die Balmoral Avenue gekommen ist und wer ihr diese Verletzung zugefügt hat.«
»Sind Sie immer so idealistisch und stellen Nachforschungen über Todesfälle bei armen ausländischen Gefängnisausbrechern an, Ms. Warshawski?«
Sein spöttischer Tonfall ärgerte mich, aber das war vermutlich seine Absicht. »Immer, ja. Wissen Sie, es ist eine nette Abwechslung zum Alligatorringen, mit so höflichen Leuten wie Ihnen zu sprechen.«
»Puh.« Er holte tief Luft. »Tut mir leid, ich hab's nicht besser verdient. Ich bin nicht so oft in Chicago. Könnte ich mich mit jemandem unterhalten, der Ihre Arbeit kennt?«
Das war ein faires Angebot. Warum sollte er einer völlig Fremden vertrauliche Informationen geben? Ich nannte ihm Lottys Namen und bat ihn seinerseits um eine Referenz. Er kannte den Pathologen Vishnikov von dessen forensischer Tätigkeit für das Berman Institute in Südamerika.
Das ältere Paar am Straßenrand zahlte. Dann gingen die beiden Arm in Arm zu ihrem Wagen. Ich fühlte mich einsamer denn je.
»Wenn Sie Vishnikov kennen, könnten Sie ihn an die Sache mit Nicola Aguinaldos Leiche erinnern. Die ist aus dem Leichenschauhaus verschwunden. Morgen möchte ich herausfinden, wieviel es kostet, Nicolas Kleidung analysieren zu lassen - immer vorausgesetzt, das Privatlabor, das sie sich schon einmal angeschaut hat, hat sie noch. Allerdings wäre alles viel einfacher, wenn ich wüsste, wo ihre Leiche ist. Es könnte sein, dass ihre Mutter sie hat, aber woher wusste die, dass ihre Tochter tot ist? Sie hat ihre Wohnung am Morgen des Tages, an dem ich Nicola gefunden habe, verlassen. Es sind ein paar ziemlich offiziell wirkende Männer in der Gegend aufgetaucht und haben die Leute dort in Angst und Schrecken versetzt. Doch das wissen Sie sicher schon, oder?«
Erst nach einer ganzen Weile nickte Morrell zögernd.
»Wer waren diese Männer?« fragte ich. »Beamte, die das Gefängnis geschickt hatte? Oder welche von der Einwanderungsbehörde, wie die Nachbarn dachten? Leute von einem großen zivilen Sicherheitsdienst? Jedenfalls sind die Männer, seit Senora Mercedes verschwunden ist, nicht mehr wiedergekommen. Das heißt, dass sie entweder nach Senora Mercedes selbst oder nach ihrer Tochter gesucht haben. Wenn eine Ihrer Kontaktpersonen im Viertel Ihnen sagen würde, wo die Mutter sich versteckt hält, könnten Sie sie vielleicht davon überzeugen, dass sie eine Obduktion durchführen lassen muss.«
Morrell sagte nichts. Erst jetzt merkte ich, dass der Kellner neben unserem Tisch stand. Es war inzwischen elf Uhr, außer uns waren nur noch zwei schmusende junge Leute in dem Lokal. Ich holte einen Zehner
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