Die verschwundene Frau
versuchte, mich in eine Falle zu locken. Aber warum? Lacey Dowell hatte ganz offensichtlich nicht das Gefühl, von Frenada belästigt zu werden. Und Murray steckte so tief in der Suche mit drin, dass ich nicht mehr wütend, sondern nur noch traurig sein konnte. Ich hätte ihm gern erzählt, was ich von Siekevitz erfahren hatte, wollte aber nicht nach ihm suchen. Es wäre zu schmerzhaft, wenn ich ihn in Gesellschaft von Alex Fisher fände. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wo sich das Nachtleben von Chicago heutzutage abspielte. Früher war Murray oft zu Lucy Moynihan's am Lower Wacker Drive gegangen, aber das war ein Treffpunkt für Journalisten; Fernsehleute trinken anderswo.
Also fuhr ich brav nach Hause und stopfte meine schmutzige Kleidung in die Waschmaschine im Keller. Gerade als ich die Tür zu meiner Wohnung öffnete, klingelte das Telefon.
»Ms. Warshawski?« Eine mir unbekannte Männerstimme. »Mein Name ist Morrell. Ich habe gehört, Sie wollen mit mir sprechen.«
Eine Stunde später saß ich ihm im Drummers, einem Weinlokal in Edgewater, gegenüber. Morrell war schlank und ungefähr so groß wie ich und hatte blondes, lockiges Haar.
Draußen an einem Tisch an der Straße aß ein älteres Paar zu Abend. Die beiden beugten sich ein wenig vor, um den Lärm, den die fröhlichen jungen Leute rund um sie herum machten, zu übertönen. Ich war ein bisschen neidisch auf die weißhaarige Frau, deren Hand auf dem Arm des alten Mannes ruhte. Die Tatsache, dass ich mich im Rahmen von Nachforschungen auf einen Drink mit einem Fremden traf, gab mir das Gefühl, einsam zu sein.
Ich hatte Morrell am Telefon zu erklären versucht, was ich wissen wollte, doch er hatte gesagt, er werde meine Fragen nur beantworten, wenn er mich treffen könne. Er hatte von Evanston, dem ersten Vorort nördlich von Chicago, aus angerufen; Drummers lag ungefähr auf halbem Weg.
»Sind Sie wirklich Privatdetektivin?« fragte er, nachdem der Kellner uns die Drinks gebracht hatte.
»Nein, das ist mein Hobby«, sagte ich ein wenig mürrisch. »Hauptberuflich ringe ich mit Alligatoren. Und was machen Sie, wenn Sie nicht gerade mit Leuten reden, die aus dem Gefängnis geflohen sind?«
»Haben die Kinder das gesagt?« Er lachte leise. »Eigentlich interessiert mich, wer Ihnen Geld dafür gibt, Fragen über Nicola Aguinaldo zu stellen.«
Ich nahm einen Schluck Cabernet. Er schmeckte ein bisschen nach Essig, als habe er schon zu lange auf der Theke gestanden. Nun, selber schuld, dachte ich, wenn du teuren Wein in einer Gegend bestellst, in der es noch drei Jahre zuvor bloß billiges Gesöff gegeben hat.
»Ich wäre eine ziemlich schlechte Privatdetektivin, wenn ich jedem erzählen würde, wer mich bezahlt. Besonders, wenn der Betreffende ein Fremder ist und Fragen stellt über eine Ausländerin, die auf ausgesprochen unangenehme und, wie sich mittlerweile herausgestellt hat, verdächtige Weise ums Leben gekommen ist. Vielleicht arbeiten Sie ja als verdeckter Ermittler für die Einwanderungsbehörde? Oder für die irakische Geheimpolizei - wie heißt die gleich noch mal? Ammo oder so ähnlich?«
»Nein, Aman«, sagte er. »Gut, ich verstehe Ihr Problem.«
Er tippte mit dem Finger gegen seine Kaffeetasse und kam irgendwann zu dem Schluss, dass er selbst etwas verraten musste, wenn er etwas aus mir herausbekommen wollte. »Ich interessiere mich für politische Gefangene. Ich schreibe schon seit über zehn Jahren über dieses Thema. Meine Artikel erscheinen im New Yorker, aber vieles von dem, was ich verfasse, ist für Organisationen wie Americas Watch oder das Grete Berman Institute. Sie haben mir auch den Auftrag für das Buch gegeben, an dem ich gerade arbeite.«
Ich hatte schon vom Grete Berman Institute gehört - ein Mann, dessen Mutter während des Holocaust umgekommen war, hatte dem Institut Geld hinterlassen, damit es Folteropfern dabei half, sich physisch und psychisch zu erholen. »Und worum geht's in dem Buch?«
Er aß ein paar von den Nüssen, die in einer Schale auf dem Tisch standen. »Es interessiert mich, welche Möglichkeiten politische Flüchtlinge haben, ob sie sich großen Problemen gegenübersehen, wenn sie in einer fremden Welt ein neues Leben beginnen müssen, oder ob ihnen das sogar Kraft gibt. Wenn jemand in seinem Heimatland auf eine bestimmte Sparte spezialisiert war, wird er hier oder in Europa oft von einer akademischen Institution aufgenommen. Das sind meist die Leute, denen es aufgrund ihrer Finanzen und ihrer
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