Die verschwundene Frau
und meinen Dad hätte es gefreut zu sehen, dass ich in seine Fußstapfen trat, aber meiner Mutter wäre es mit Sicherheit nicht recht gewesen. Sie hatte immer gewollt, dass ich mich weiterbildete und mich für Kunst interessierte, dass ich in einer Welt lebte, die der Zweite Weltkrieg für sie zerstört hatte - Konzerte, Bücher, Gesangsstunden, Freunde, die ganz der Musik und Kunst lebten. Sie hatte mich in der Hoffnung, dass ich einmal die Karriere machen würde, die ihr versagt gewesen war, zu Klavier- und Gesangsunterricht gedrängt. Ganz bestimmt hatte sie Vorbehalte gegen Menschen gehabt, die ihre Tochter ein Arbeiterkind nannten.
Nachdem ich das Stück gespielt hatte, machte ich ein paar Aufwärmübungen für die Stimme - das hatte ich schon seit Wochen nicht mehr getan. Ich tastete mich soeben an die mittlere Tonlage heran, als das Telefon klingelte. Es war Morrell.
»Ms. Warshawski, ich bin gerade in Ihrer Gegend. Könnte ich auf einen Sprung bei Ihnen vorbeischauen?«
»Ich habe im Augenblick keine Lust auf Gesellschaft. Können wir das nicht am Telefon besprechen?«
»Lieber nicht. Ich verschwinde so schnell wieder, dass Sie meine Anwesenheit fast nicht bemerken werden.«
Zum Putzen hatte ich eine abgeschnittene Jeans angezogen, und meine Arme und Beine waren völlig verdreckt. Was soll's, dachte ich. Wenn er unangemeldet bei mir auftauchte, dann musste er mich eben so nehmen, wie ich war. Ich wandte mich wieder meinen Stimmübungen zu und überließ es Mr. Contreras und den Hunden, Morrell zu begrüßen.
Ich wartete eine Weile, bevor ich auf den Flur hinausging. Mein Nachbar löcherte Morrell gerade mit Fragen: »Erwartet sie Sie noch so spät am Abend, junger Mann? Mir gegenüber hat sie Ihren Namen noch nie erwähnt.«
Ich musste lachen und rannte barfuss die Treppe hinunter, bevor die Frau, die im selben Stockwerk wie Mr. Contreras wohnte, sich über den Lärm beschweren konnte. »Ist schon in Ordnung. Er hat ein paar Informationen für mich in einem Fall, an dem ich gerade arbeite.«
Ich stellte Morrell Peppy vor. »Das hier ist der Polizeihund. Der Große hier ist ihr Sohn. Und das ist mein Nachbar und guter Freund Mr. Contreras.«
Mr. Contreras war beleidigt darüber gewesen, dass ich ihm nichts von Morrell erzählt hatte, aber die Art und Weise, wie ich ihn vorgestellt hatte, glättete die Wogen wieder ein bisschen. Er scheuchte die Hunde zurück in seine Wohnung, allerdings erst, nachdem er mir einen Vortrag darüber gehalten hatte, dass ich ihm sagen musste, mit welchen Besuchern er zu rechnen hätte. Schließlich sitze die Polizei mir im Nacken.
Morrell folgte mir die Treppe hoch. »Mit einem solchen Nachbarn brauchen Sie vermutlich keinen Sicherheitsdienst. Erinnert mich an die Dörfer in Guatemala. Dort passen die Leute viel mehr aufeinander auf als hier.«
»Manchmal treibt er mich fast zum Wahnsinn, aber Sie haben recht. Ohne ihn würde ich mir ganz schon verloren vorkommen.«
Ich bot Morrell den großen Sessel an und setzte mich selbst auf den Klavierhocker. Im Licht der Lampe sah ich, dass seine dichten Haare von grauen Strähnen durchzogen waren und die Lachfältchen um seine Augen sich tiefer in die Haut gruben als auf dem Foto in dem Buch.
»Ich werde Sie wirklich nicht lange aufhalten, aber die Jahre, die ich in Südamerika verbracht habe, haben mich vorsichtig gemacht. Ich gebe vertrauliche Informationen nur ungern am Telefon weiter. Es ist mir gelungen, Nicola Aguinaldos Mutter aufzuspüren. Sie wusste nichts vom Tod ihrer Tochter. Und sie hat ihre Leiche nicht.«
Ich musterte ihn, war aber nicht in der Lage zu entscheiden, ob er die Wahrheit sagte. »Ich würde mich gern selbst mit Senora Mercedes unterhalten. Können Sie mir sagen, wo Sie sie gefunden haben?«
Er zögerte. »Ich glaube nicht, dass sie sich einer Fremden anvertrauen würde.«
»Sie hat sich Ihnen anvertraut, und gestern abend haben Sie mir versichert, dass Sie sie nicht kennen.«
Sein Mund verzog sich zu der Andeutung eines Lächelns. »Ich habe mich mit ein paar Leuten über Ihre Arbeit unterhalten, und sie hatten recht: Sie bekommen wirklich alles mit. Würden Sie mir bitte glauben, dass Senora Mercedes die Leiche ihrer Tochter nicht hat?«
Ich wandte mich wieder dem Klavier zu. »Allmählich habe ich es satt, dass Leute mich mit der einen Hand auf den Fall Aguinaldo zuschieben und mich mit der anderen wieder wegziehen. Irgend etwas an der Art und Weise, wie sie gestorben ist, ist faul, aber Sie
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