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Die verschwundene Frau

Die verschwundene Frau

Titel: Die verschwundene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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Böschung. Auf dem Straßenschild, das sich dort befand, stand MONTROSE AVENUE. Vom Güterwaggon aus hatte ich geglaubt, durch ländliches Gebiet zu fahren, doch ich war immer noch innerhalb der Stadtgrenzen. Plötzlich erkannte ich die Gegend wieder. Die Betonmauer trennte mich vom Kennedy Expressway. Das Dröhnen, das ich hörte, kam also nicht von dem Zug, der inzwischen weggefahren war, sondern vom Verkehr auf der Straße.
    Ich ging die Böschung hinauf und schaute mich immer wieder nervös um, konnte aber Lemour nirgends entdecken. Jetzt tat mir jeder Schritt weh. Ich schaffte es über die Expressway-Brücke zur Haltestelle der Hochbahn, wo ich ein paar Münzen in den Fahrscheinautomaten warf und dann auf eine Bank sank, um auf einen Zug zu warten.
    Mittlerweile war es halb fünf Uhr morgens, und die Sommersonne begann, den östlichen Himmel schlammig grau zu färben. Als zwanzig Minuten später quietschend ein Zug einfuhr, waren die Waggons halb voll mit Leuten, die gerade die Nachtschicht im Flughafen hinter sich hatten. Ich setzte mich auf einen leeren Platz. Die Leute rückten sofort von mir weg. Niemand will mit der Armut und dem Schmutz einer Obdachlosen in Berührung kommen. Und in meiner zerfetzten, völlig verdreckten Kleidung sah ich schlimmer aus als die meisten Penner.
    Die Fahrt in die Stadtmitte verdöste ich. Dort stieg ich in die Red Line um und döste weiter bis Belmont. Falls mir jemand vor meiner Wohnung auflauerte, war mir das inzwischen egal. Ich stolperte die fünf Häuserblocks nach Hause und fiel ins Bett.

Ärger für die Riesen
    Von dem Sprung aus dem Waggon hatte ich an der Stelle, an der sich die Waffe in meine Seite gebohrt hatte, einen tiefblauen Fleck. Der würde mir vier oder fünf Tagelang weh tun, aber wenn ich ein bisschen aufpasste, war es das auch schon. Das gleiche galt für meine linke Hüfte. Dort hatte ich eine richtige Prellung, was bedeutete, dass das Abklingen länger dauern würde, aber wenigstens hatte ich mir nichts gebrochen, und auch die Schnitte an meinen Armen mussten nicht genäht werden. Das erklärte mir Lotty am Sonntag nachmittag in ihrer Klinik mit einem traurigen Blick, der mir mehr zu schaffen machte als ihr Zorn.
    »Aber natürlich weiß ich, dass du keine Ruhe geben kannst. Obwohl ich jetzt begreife, was die Populärpsychologen meinen, wenn sie von Leuten sprechen, die ein solches Verhalten erst möglich machen.« Sie legte ihren Augenspiegel scheppernd weg und wusch sich die Hände. »Wenn ich den Mut hätte, dich einfach irgendwann nicht mehr zusammenzuflicken, würdest du vielleicht auch aufhören, so mit deinem Körper umzugehen. Du bist tollkühn im wahrsten Sinn des Wortes. Wie lange, meinst du, soll das noch so weitergehen? Eine Katze hat neun Leben, aber du hast nur das eine, Victoria.«
    »Das brauchst du mir nicht zu sagen; das spüre ich selber«, herrschte ich sie an. »Die Arme und Beine tun mir weh. Ich kann kaum das Zimmer hier durchqueren. Ich werde allmählich alt. Das ist schrecklich. Ich hasse das Gefühl, mich nicht mehr auf meinen Körper verlassen zu können.«
    »Also willst du Johanna von Orleans in die Flammen folgen, bevor dein Körper endgültig nicht mehr mitmacht und du zugeben musst, dass auch du sterblich bist?« Lotty bedachte mich mit einem Lächeln, das eher nach einer Grimasse aussah. »Wie alt war deine Mutter, als sie starb?«
    Ich starrte sie verblüfft über die unerwartete Frage an. »Sechsundvierzig.«
    »Und davor war sie zwei Jahre lang krank? Es ist nicht schön zu wissen, dass man älter werden wird als seine Mutter, aber länger zu leben als sie, ist kein Verbrechen«, sagte Lotty. »Du wirst nächsten Monat vierundvierzig, stimmt's? Du brauchst nicht bis an deine Grenzen zu gehen, damit du dein Kapital auch garantiert in den nächsten beiden Jahren aufbrauchst. Es hatte heute nacht sicher eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten gegeben, um herauszufinden, ob Mr. Frenada in dem Gebäude ist oder nicht. Vielleicht solltest du lernen, deine Kräfte für Fälle aufzusparen, in denen Körperkraft der letzte Ausweg ist, statt sie immer gleich einzusetzen. Meinst du nicht, dass deiner Mutter das auch lieber gewesen wäre?«
    Ja, wahrscheinlich schon. Mit Sicherheit sogar. Meine Mutter war eine unglaublich energische Person gewesen, aber Körperkraft hatte sie nie für wichtiger gehalten als Cleverness. Sie war an einem Gebärmuttertumor gestorben, den die Ärzte nach einem Abgang entdeckt hatten, weil die

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