Die verschwundene Lady (German Edition)
beschäftigen.«
»Ich darf mir das Wappen aber doch fotokopieren?«
»Bitte.«
Der Fotokopierer stand nebenan. Anne bediente sich. Sie brauchte die Kopie für Vergleichszwecke, denn sie hatte vor, am nächsten Tag dem Schloss Kensington einen Besuch abzustatten und dort nach ihrer Mutter zu suchen. Zuvor wollten sie aber noch Näheres über jenen Lord Henry herausfinden.
Anne verabschiedete sich und fuhr wieder zu Peter Stanwell nach Belgravia hinüber. Der Anwalt erwartete sie ungeduldig. Seine Angestellten waren schon nach Hause gegangen. Normalerweise wäre die Kanzlei schon geschlossen gewesen. Anne informierte Stanwell über die Neuigkeit.
Der Anwalt hatte seine Verbindungen.
»Da will ich doch gleich mal bei >Herald< anrufen. Wenn man mir dort nicht weiterhilft, wende ich mich an Scotland Yard. Mir als einem Rechtsanwalt werden vom Yard Auskünfte erteilt, die man Normalsterblichen nicht gibt.« Stanwell hatte schon beim »Herald« Erfolg, einer großen Tageszeitung. Der Abendredakteur rief bald zurück.
»Es gibt einen Lord Henry Kensington«, sagte Stanwell, nachdem er aufgelegt hatte. »Er ist fünfunddreißig Jahre alt, ein Gesellschaftslöwe und eine stattliche, blendende Erscheinung. Kinderlos mit Lady Kitty verheiratet. Die Ehe gilt als nicht glücklich. Mehr konnte der Abendredakteur mir nicht sagen, denn für den Gesellschaftsklatsch ist er nicht zuständig. - Es scheint, dass wir auf der richtigen Fährte sind, dank Stevens ’ Tip p und Professor Trelawney Wissen. Wie fandest du ihn, Anne?«
Sie überlegte.
»Für eine Mumie wirkt er zu lebendig, für einen lebendigen Menschen zu verstaubt. Für alle genealogischen und wappenkundlichen Fragen ab hundert Jahre zurück ist er hervorragend zu gebrauchen. - Ich fahre gleich morgen früh nach Walton-on-Thames, sollte meine Mutter bis dahin nicht zurück sein. Ach ja, eins hast du mir nicht gesagt. Wie stellte der Redakteur denn die Vermögensverhältnisse des Lord Kensington dar?«
»Dazu konnte er nichts sagen. Er sei nicht das Finanzamt, meinte er.« Stanwell schaute auf seine Armbanduhr. »Mein Gott, schon so spät. Was werden sie im Klub nur sagen? Wir haben heute Abend unsere wöchentliche Billardpartie.«
»Dann beeile dich, dass du hinkommst, Onkel Peter. Wenn du fehlst, wird womöglich der Klub geschlossen. - Möchtest du mich morgen nach Walton-on-Thames begleiten?«
»Das halte ich nicht für zweckmäßig. Du bist die Tochter, ich bin nur der Anwalt und Testamentsvollstrecker deines verstorbenen Vaters. Vorausgesetzt, Sir Henry ist mit deiner Mutter im Schloss , wie würde es aussehen, wenn ich da hereinplatze? Bei dir ist es unverfänglicher.«
Was würden die Leute sagen? Peter Stanwell war immer auf seinen Ruf bedacht. Er lebte nach so strengen Regeln, dass er kaum noch Bewegungsfreiheit hatte. Anne bedauerte ihn.
* .
Kensington Castle stand oberhalb des romantischen Städtchens Walton auf einem Hügel. Eichenwälder, um diese Jahreszeit kahl, zogen sich die Anhöhe hinauf, bis zu den Mauern des Schlosses, hinter dem ein Park lag. Träge floss die Themse an Schloss und Städtchen vorbei. Die Türme von Kensington Castle spiegelten sich auf der einen Seite im Wasser.
Anne war gegen elf Uhr mit dem Zug angekommen. Sie trug ihr Reisegepäck bei sich und hatte ein lindgrünes Kostüm und einen hellen Popelinemantel an. Der frische Wind, der über die Stoppelfelder abseits von Walton dahinf u hr, zauste Annes blonde Locken, die sie modisch frisiert hatte.
Kensington Castle wirkte beeindruckend. Wie ein Monument kündete es von der Größe und dem Reichtum eines Geschlechts, das schon seit Jahrhunderten eine Rolle spielte. Annes Herz klopfte rascher, je mehr sie sich dem Schloss näherte. Das rührte nicht nur von dem Anstieg auf der recht steilen Straße her.
Die Novembersonne trat zwischen den Wolken hervor. Sie ließ die Gegend ein wenig freundlicher erscheinen. Raben flogen krächzend von Süden her über die Themse, die ein Stück hinter dem Schloss eine Schleife beschrieb. Anne schwitzte vom Aufstieg, obwohl es frisch war, und öffnete ihren Mantel.
Das Schloss bestand aus vier Trakten, die quadratisch um einen Innenhof angelegt waren. Der Torbogen mit dem wuchtigen Torturm und dem Eingang befand sich nach Walton zu. In dem Schloss , die Nebengebäude und Gesindehäuschen nicht gerechnet, konnte man Hunderte von Menschen unterbringen. Anne fragte sich, mit welchen Maßstäben Leute wie die Kensingtons
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