Die verschwundene Lady (German Edition)
rechneten.
Der Normalverbraucher war schon über ein Reihenhäuschen froh und wertete es als Erfolg, wenn er es dazu gebracht hatte. Lord Kensington verfügte über ein Schloss mit weit über hundert Zimmern und Sälen, über Ländereien und alles mögliche. Wofür lebten solche Menschen eigentlich, denen von Geburt an schon alles in die Wiege gelegt wurde und die nie für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten brauchten?
Ein Kensington hat seine Karriere mit der Geburt zugleich begonnen und vollendet, denn mehr konnte er nicht mehr werden, dachte Anne. Es war eine andere Welt, auf die sie da zuschritt. Anne verbot sich die zagen Gedanken. Das sind auch bloß Menschen, sagte sie sich. Nur keinen falschen Respekt.
Niemand war zu sehen. Abweisend wirkte das Schloss . Die Sonne ließ die blankgeputzten Fenster blinken. Hoch ragte die seitliche Wand über Anne auf. Sie war noch zweihundert Meter vom Schloss entfernt, als der Torflügel sich öffnete und ein schwarzer Rolls-Royce Silver Shadow geradezu majestätisch hervorf u hr.
Annes Herz setzte einen Schlag aus. Der Anblick des Wappens an der Fahrertür, das sie dann sah, war der letzte Beweis. Dies musste entweder derselbe Wagen sein, in den ihre Mutter eingestiegen war, oder ein genaues Duplikat.
Ein einzelner Mann saß im Rolls-Royce. Er schaute starr geradeaus und schien Anne nicht zu sehen, obwohl sie sich auf die Straße stellte und winkte. Der hochfürstliche Rolls fuhr genau auf sie zu. Der Mann am Steuer musste der Butler sein.
Ertrug eine wespenfarbige, taillierte Weste und Handschuhe. Sein längliches Gesicht zierte ein altertümlicher dunkler Backenbart. Das Haar war lockig. Mit hochmütiger Miene starrte er scheinbar durch Anne hindurch.
»He, Sie !«, rief sie. »Halten Sie an! Ich muss Sie etwas fragen.«
Anne wich aus, sonst hätte der Rolls-Royce sie womöglich noch überfahren. Die junge Frau wollte es nicht darauf ankommen lassen, ob der Butler ihr im letzten Moment noch auswich und stoppte. Er fuhr an ihr vorbei, sogar noch durch eine kleine Pfütze, und bespritzte Anne mit Wasser.
Sie drohte ihm hinterher.
»Alberner, rücksichtsloser Fatzke! Du hast deinen Führerschein wohl in der Lotterie gewonnen, du Kleiderständer?«
Nachdem die Studentin ihrem Herzen Luft gemacht hatte, fühlte sie sich ein wenig erleichtert. Der Wagen entschwand um die Kurve. Was seinen Fahrer betraf, existierte Anne überhaupt nicht für ihn. Wir haben dich nicht gerufen, besagte diese Haltung. Wer bist du denn überhaupt, und was willst du?
Anne fragte sich, ob der Herr genauso eingebildet wie sein Butler war. Oft verhielt es sich so, dass der Butler sich adliger dünkte und arroganter gab als der Lord selbst, der es nicht nötig hatte, eine Pose einzunehmen. Es gab Lords, die in alten Knickerbockerhosen umherliefen, die ihre Forstarbeiter nicht mehr angezogen hätten.
Der Torflügel schloss sich. Anne lief schneller, erreichte außer Atem das Tor und betätigte den Klopfer. Dumpf hallte es durch den Torbogen und über den Zufahrtsweg vor dem Schloss . Anne klopfte immer wieder.
Über dem Torbogen eingemeißelt sah sie wieder das Wappen, das sie hergeführt hatte - den Greifen von Kensington mit dem Spruchband »Nihil fugit«. Endlich wurde eine Tür in einem der mächtigen, mit Eisenbände rn beschlagenen Torflügel geöffnet. Die Frau schaute unwillkürlich nach oben und erwartete, in dem Torbogen oben ein herabsenkbares Fallgitter zu sehen, wie man es in den Ritterfilmen zeigte.
Doch das gab es nicht. In der Tür erschien ein klobiger Mensch in derber Arbeitskleidung, mit Gummistiefeln und einer grünen Gärtnerschürze. Er war stoppelbärtig, wirkte finster, und seine flache, fliehende Stirn verriet, dass er bei der Verteilung der Intelligenz nicht in der vordersten Reihe gestanden hatte.
»Wolln ’ Sie denn ?«, grunzte er fast unverständlich.
Der Gärtner hatte riesige Hände und enorm breite Schultern. Er war ein Typ, den man beim Umzug gebrauchen konnte, weil er zu sagen vermochte: »Den Kleiderschrank trage ich allein!«
»Mein Name ist Anne Carmichael. Ich möchte Lord Henry Kensington sprechen, falls er da ist.«
»Er ist schon da, aber ich glaube kaum, dass er Ihnen viel Antwort geben wird. Er liegt nämlich seit vier Wochen in der Ahnengruft. Sir Henry Archibald Leroy Keene, der 28. Lord of Kensington, ist verstorben.«
Der ungeschlachte Gärtner sprach mit dem Akzent der untersten Bevölkerungsschichten. Er fuhr sich über die Augen. Der Tod
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